Gesunde Lebensweise wichtiger als "gute Gene"?

Was bei ErnährungswissenschafterInnen im Einkaufswagen landet, wie die richtige Lebensweise vor Krankheiten schützt und warum ein erhöhter Bilirubinspiegel ein "Gendefekt mit positiven Nebenwirkungen" ist, erzählen Karl-Heinz Wagner und Annemarie Grindel im Interview zur aktuellen Semesterfrage.

uni:view: Als ErnährungswissenschafterInnen beschäftigen Sie sich von Berufs wegen her mit Nahrungsmitteln – wie beeinflusst das ihre täglichen Kaufentscheidungen?
Annemarie Grindel:
Ich achte darauf, oft Obst und Gemüse zu essen und qualitativ hochwertige Produkte zu kaufen. Ich koche möglichst viel selbst und versuche, auf Fertigprodukte mit Geschmacksverstärkern so gut es geht zu verzichten. Ab und zu landet die Tiefkühlpizza aber trotzdem im Ofen. (lacht)

uni:view: In den Medien wechseln sich oft Lebensmittelskandale mit Foodtrends ab. Können Sie eine nachhaltige Empfehlung für gesunde Ernährung abgeben?
Karl-Heinz Wagner: Medial wird u.a. diskutiert, ob Spinat zu viel Nitrat enthält – obwohl bei ÖsterreicherInnen Spinat im Durchschnitt nur ein- bis zweimal pro Jahr auf dem Teller landet. Das Beispiel zeigt, dass sich die geschürten Ängste nicht mit den eigentlichen Ernährungsproblemen in der Bevölkerung decken: Wir essen zu viel Fleisch und Wurst, zu wenig Getreide, Obst und Gemüse; Übergewicht ist eine Volkskrankheit.

Wir empfehlen eine pflanzenbetonte Mischkost, die bunt und variantenreich ist. Das heißt: Maximal zwei- bis dreimal die Woche Wurst und Fleisch, einmal die Woche Fisch, Getreide und Hülsenfrüchte mehrmals täglich, fünf Portionen Obst und Gemüse pro Tag – bestenfalls in den Farben des Regenbogens, um alle nötigen Nährstoffe abzudecken.

Jedes Semester stellt die Universität Wien ihren WissenschafterInnen eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. In Interviews und Gastbeiträgen liefern die ForscherInnen vielfältige Blickwinkel und Lösungsvorschläge aus ihrem jeweiligen Fachbereich. Zur Semesterfrage

uni:view: In Ihrer Forschung beschäftigen Sie sich mit dem Präventionspotenzial von Ernährung – kann uns die richtige Ernährung vor Krankheiten schützen?
Grindel: Ernährung alleine wohl nicht, aber sie spielt eine wichtige Rolle. Wir forschen zum Typ-2-Diabetes, unter dem aktuell rund acht Prozent der österreichischen Bevölkerung leiden – Tendenz steigend. Diabetes entsteht nicht von heute auf morgen, sondern entwickelt sich über Jahre. Es kann davon ausgegangen werden, dass sich viele Menschen in der Vorstufe zur Diabetes befinden. Da kann über Ernährungsumstellung und Sport noch das Ruder herumgerissen werden.

Wagner: Das Potenzial von gesunder Ernährung hinsichtlich Typ-2-Diabetes konnten wir auch experimentell nachweisen: 76 erkrankte Personen haben über einen Zeitraum von acht Wochen 300 Gramm Gemüse pro Tag zusätzlich verzehrt (was den Empfehlungen entspricht). Wir konnten feststellen, dass schon nach acht Wochen vermehrter Zufuhr die bioaktiven Inhaltsstoffe aus dem Gemüse aufgenommen wurden. Das hatte einen positiven Effekt auf den gesamten Körper: HbAc-Werte und Glucose-Spiegel veränderten sich, DNA-Schäden nahmen ab. Auch der Risikoscore für Herz-Kreislauf-Erkrankungen konnte gesenkt werden.
   


uni:view: Durch eine Ernährungsumstellung konnten also nicht nur die Biomarker für Typ-2-Diabetes verändert werden, sondern auch die für andere Krankheiten?
Grindel:
Genau, die Risikoscores für Herz-Kreislauf-Erkrankungen bzw. die Wahrscheinlichkeit für einen Herzinfarkt konnten wir durch unsere Ernährungsintervention für Diabetes-PatientInnen ebenfalls senken. Es ist auch schon länger bekannt, dass 30-35 Prozent der Krebserkrankungen auf Fehlernährung zurückzuführen sind. In einer Aufbaustudie haben wir uns daher die Verbindung von Diabetes und Krebs angeschaut. Die Studie hat gezeigt: Chromosomenschäden korrelieren mit den HbAc-Werten, umso höher also der Blutzucker ist, desto höher das Krebsrisiko. Der Blutzuckerspiegel sollte daher stets nieder bleiben – durch Medikation, aber auch gezielte Interventionen.   

uni:view: Interventionen entwerfen Sie auch im Rahmen der Forschungsplattform "Active Ageing", die kürzlich verlängert wurde. Worum geht es da?
Wagner: Ab ca. 40 Jahren beginnt der Körper sich physiologisch zu verändern: Stoffwechselaktivitäten gehen langsam zurück, Knochendichte und Muskelmasse nehmen ab. Das zeigt sich zum Beispiel, wenn PatientInnen nach einem längeren Spitalaufenthalt das Krankenbett verlassen. Die Muskelmasse ist reduziert, die Beine abgemagert. Muskelschwund ist die häufigste Ursache für den Weg Richtung Morbidität und Mortalität im Alter. Dort setzen wir mit unserer Forschung an: Wie können Menschen ihren Stoffwechsel und ihre Muskelmasse auch im hohen Alter bewahren? Der Schlüssel scheint – wieder einmal – Bewegung und ausgeglichene Ernährung zu sein. 

Die durchschnittliche Lebenserwartung der österreichischen Bevölkerung steigt jährlich. Doch wie steht es um die Lebensqualität im Alter? Im Rahmen der Forschungsplattform "Active Ageing" setzt sich ein interdisziplinäres Team aus den Bereichen Ernährungswissenschaften, Sportwissenschaft und Pharmakognosie zum Ziel, einen Beitrag zum aktiven sowie möglichst schmerz- und medikamentenfreien Altern zu leisten. Zum uni:view-Artikel

uni:view: Manche Menschen werden 75, andere 100 Jahre alt – gibt es nicht auch einfach so etwas wie "gute Gene"?
Wagner: Menschen können genetisch sehr gut ausgestattet sein, aber wenn sie ihr Leben lang KettenraucherInnen waren, wird das auch nicht helfen. Der Phänotyp, also wie wir leben, uns ernähren und bewegen, ist wichtiger als der Genotyp, d.h. die genetische Prädisposition. Aber generell wissen wir noch viel zu wenig darüber, welche Veränderungen im Körper die Gesundheit steuern damit wir z.B. sehr alt werden. 

uni:view: Mit Ihrer aktuellen Forschung zu Bilirubin wollen Sie das ändern und beschäftigen sich mit Polymorphismen, die einen Einfluss auf unsere Gesundheit haben. Was konnten Sie bisher herausfinden?
Wagner: Wir sind auf einen Gendefekt mit positiven Nebenwirkungen gestoßen, unter dem etwa fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung "leiden": ein moderat erhöhter Bilirubinspiegel. Die betroffenen Menschen sind schlank, metabolisch gut ausgestattet, ihre Cholesterinspiegel und Entzündungswerte sind geringer. Den Extremfall kennt man als Gelbsucht bei Babys, Menschen mit einem moderat erhöhten Bilirubinspiegel aber scheinen vor altersabhängigen Risikofaktoren geschützt.

Im uni:view-Artikel veranschaulicht Karl-Heinz Wagner den Abbau von Bilirubin im menschlichen Körper anhand eines "Blauen Flecks": "Die bläuliche Färbung eines Hämatoms kommt vom Hämoglobin. Beim Abbau der roten Blutkörperchen wird der Fleck leicht türkis – das ist das Biliverdin. Am Ende bleibt das Bilirubin übrig und der vormals blaue Fleck wirkt gelb." (Grafik: Universität Wien)

uni:view: Wie tragen Sie Ihre Forschungsergebnisse in die Gesellschaft hinaus?
Wagner:
Neben meiner Tätigkeit am Department für Ernährungswissenschaften der Universität Wien bin ich auch Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Ernährung. Wir versuchen über Medien, Tagungen, Workshops z.B. an Schulen und Drittmittelprojekte, Wissen über Ernährung auf der Bevölkerungsebene zu verwurzeln. Und natürlich sind wir auch bemüht, nach unseren eigenen Empfehlungen zu leben – das klappt nicht immer, aber immer öfter. (lacht)

uni:view: Danke für das Gespräch!
(hm)

Mehr über Karl-Heinz Wagner und Annemarie Grindel:
Univ.-Prof. Mag. Dr. Karl-Heinz Wagner ist Vizedekan der Fakultät für Lebenswissenschaften und stv. Leiter des Departments für Ernährungswissenschaften. Seine Fachgebiete sind u.a. oxidativer Stress und DNA-Stabilität, Lebenstilinterventionen und Biofunktionalität von Nahrung. Seit Januar 2011 leitet er die Forschungsplattform Active Ageing zwischen der Fakultät für Lebenswissenschaften und dem Zentrum für Sportwissenschaft. Neben seiner Forschungstätigkeit an der Universität Wien ist er Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Ernährung.

Dipl.-Ernährungswiss. Annemarie Grindel, PhD ist seit März 2013 am Department für Ernährungswissenschaften und arbeitet an dem Projekt "Oxidative stress, DNA damage and genomic instabilities in type 2 diabetes."