Industrie in der digitalen Zukunft
| 13. Oktober 2016Die vierte industrielle Revolution – eine Revolution, die keine ist: dem Betriebswirt Karl Dörner zufolge hat die Digitalisierung zwar sehr wohl weitreichende Auswirkungen auf die Industrie, jedoch handelt es sich dabei eher um einen anhaltenden Prozess, der bereits im Gange ist.
uni:view: Herr Prof. Dörner, Sie sind Experte für Produktion und Logistik. Womit befasst sich Ihr Fachbereich im Hinblick auf die digitale Zukunft?
Karl Dörner: Hier am Institut für Betriebswirtschaftslehre beschäftigen wir uns hauptsächlich mit der Digitalisierung und Logistik der Produktion. Das Schlagwort der Stunde lautet "Industrie 4.0". Vor einigen Jahren hat die deutsche Bundesregierung die vierte industrielle Revolution ausgerufen und damit diesen Begriff geprägt. Dahinter steckt die Erwartung – noch hat sie sich nicht bestätigt –, dass die Produktion um einiges effizienter gestaltet werden kann, indem Maschinen direkt über das Internet kommunizieren. Ermöglicht wird dies durch neue Technologien wie cyberphysische Systeme, das Internet der Dinge, Sensoren und Aktuatoren.
uni:view: "Industrie 4.0" ist in aller Munde, aber was bedeutet es eigentlich genau?
Dörner: Produktionsmaschinen melden die Daten, die sie aufzeichnen, direkt an einen zentralen Server, sodass diese Informationen unverzüglich verarbeitet werden können. In der Zukunft könnten beispielsweise bei der Stahlproduktion der "voestalpine" alle Walzwerke und Maschinen digital vernetzt sein. Wenn also irgendwo ein Problem auftritt, zum Beispiel beim Gießen einer Bramme (Anm. d. Red.: Block aus gegossenem Stahl), dann ergeht automatisiert eine Meldung an den Hochofen und das laufende Produktionsprogramm wird angepasst.
uni:view: Wie verändert sich die Rolle des Menschen durch solche digitalen Produktionsprozesse?
Dörner: Der Mensch wird mehr mit der Maschine kooperieren. Assistenzsysteme, also Roboter, unterstützen uns bei der Arbeit. Dadurch wird die Interaktion zwischen den Menschen weniger wichtig: Systeme treffen aufgrund der real verfügbaren Daten in Echtzeit Entscheidungen und übernehmen so die Planung. Sowohl Produktion als auch Logistik werden sich verändern, weil man dynamisch auf Probleme reagieren kann.
uni:view: Wie genau wird sich zum Beispiel die Logistik verändern?
Dörner: Ein Beispiel ist das sogenannte "Physical Internet": Man will Pakete in Zukunft nach dem Konzept der E-Mails versenden. Sprich: Die Fracht wird in standardisierten Boxen verschickt, ohne dass die AbsenderInnen wissen, welchen Weg das Paket genau nimmt, bis es bei den EmpfängerInnen ankommt. Ein weiteres Stichwort ist die Synchromodalität, also die Steigerung von Inter- oder Multimodalität. Das bedeutet, dass sich die Sendungen automatisch die idealen Wege suchen. Treten etwa an einem Ort Kapazitätsengpässe auf, suchen sie sich einen anderen Weg.
uni:view: Das klingt alles sehr fortschrittlich und entlastend – sowohl für ProduzentInnen als auch KundInnen. Aber welche Herausforderungen für Wirtschaft und Wissenschaft stecken dahinter?
Dörner: Im Hinblick auf Produktion und Logistik liegt die größte Problematik in der Verzahnung der unglaublichen Massen an Daten. Big Data, Data Mining und lernende Konzepte sind die zentralen Forschungsfelder in diesem Zusammenhang. Im Grunde erleben wir derzeit die Wiedergeburt der künstlichen Intelligenz, wie sie schon vor 25 Jahren propagiert wurde – seinerzeit ein Flop, zumal die vorhandene Rechenleistung nicht dafür ausreichte. Aber heute verfügt man über die entsprechenden Ressourcen, um wissensbasierte Systeme aus diesen Massendaten zu erstellen, also um das Wissen mit Optimierungsverfahren zu verzahnen. Die hauptsächliche Herausforderung liegt also nun darin, solche hochdynamischen Informationen in unsere Optimierungsverfahren zu integrieren – derzeit beschäftigen wir uns hier noch großteils mit statischer Information.
uni:view: Was wäre da ein konkretes Beispiel aus Produktion und Logistik heute und morgen?
Dörner: In Bezug auf die Distributionslogistik würde das heißen, dass man aktuelle Reisezeitinformationen und auftretende Staus, die von Sensoren erfasst werden, dynamisch in der Auslieferungsplanung berücksichtigt und gegebenenfalls die Reihenfolge der Besuche mit dem Auslieferungsfahrzeug ändert. Derzeit werden in der Auslieferung hauptsächlich fixe Rahmentouren abgefahren, ohne die aktuelle Verkehrslage zu berücksichtigen.
In Bereich der Produktion bedeutet das, dass Leistungsreduktionen von Maschinen und somit bevorstehende Ausfälle automatisch erkannt werden. Die Zuteilung der Aufträge zu den Maschinen wird autonom geändert, sodass das Produktionsprogramm ohne erhebliche Verspätung ausgeführt werden kann. Derzeit werden erst nach Eintreten des Maschinenausfalls manuell die Produktionspläne adaptiert.
uni:view: Die digitale Zukunft ist schwer zu prognostizieren. Ist die vierte industrielle Revolution ein potenzielles Risiko für die Gesellschaft?
Dörner: Meiner Meinung nach wird es keine Revolution geben, zumindest nicht in der Form der vorangegangenen industriellen Revolutionen – etwa nach der Erfindung der Dampfmaschine oder der Einführung der Elektrizität als Antriebskraft. Allein schon, weil ich nicht glaube, dass man eine solche Revolution planen kann, wie es schon seit geraumer Zeit versucht wird, etwa indem Unternehmen und Ideen, die die Digitalisierung vorantreiben, mit viel Geld gefördert werden. Natürlich sind nicht alle damit erfolgreich, was in der Sache der Natur liegt.
De facto entwickeln sich viele Bereiche unseres Lebens durch die Digitalisierung und allem, was dazugehört – dem Internet, der Vernetzung, etc. – weiter. Zumal die jetzige Generation mit smarten mobilen Geräten aufwächst, vermute ich in der Hinsicht keine große Problematik. Was sich ändern wird, ist unsere Arbeitswelt. Möglicherweise führt man in Zukunft sein Unternehmen auch im Urlaub vom Strand aus, mithilfe einer mobilen Applikation. Es geht also um eine lokale und zeitliche Entgrenzung der Arbeit, die die ständige Erreichbarkeit und räumliche Ungebundenheit mit sich bringen – inklusive der Schwierigkeiten einer verfließenden Grenze zwischen Arbeit und Freizeit.
VERANSTALTUNGSTIPP:
"Big Data in Produktion und Logistik. Wie kann die Fülle an Information sinnvoll verarbeitet werden?"
Im Rahmen der Reihe "Wissenschaft & Praxis" der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften diskutiert Karl Dörner mit Ralph Gallob, dem Geschäftsführer der Industrie-Logistik-Linz; es moderiert Michael Stummer (SynGroup).
Dienstag, 18. Oktober 2016, 18 Uhr, Sky-Lounge
Universität Wien, Oskar-Morgenstern-Platz 1, 1090 Wien
Weitere Informationen
uni:view: Eine große Angst ist, dass durch die Digitalisierung Arbeitsplätze verloren gehen, in der Politik wird z.B. die Notwendigkeit einer Maschinensteuer diskutiert. Wie stehen Sie aus Ihrer fachlichen Perspektive zu dieser Frage?
Dörner: Für mich besteht die Gefahr nicht, dass in der nahen Zukunft – also in den nächsten 10 bis 15 Jahren – viele Arbeitsplätze verloren gehen. Im Gegenteil: Die großen Herausforderungen in der IT-Branche werden viele Arbeitsplätze generieren, um diese Prozesse zu administrieren. Wie die Lage dann in 20 Jahren aussieht, lässt sich schwer vorhersagen. Aber kurzfristig werden aufgrund der Digitalisierung aus meiner Sicht keine Arbeitsplätze wegfallen.
uni:view: Es kommt also eher zu einer Umverteilung der Arbeit?
Dörner: Langfristig vielleicht, aber im Rahmen eines sinnvollen Planungshorizonts ist diese Befürchtung meines Erachtens unnötig. Allerdings wird es künftig mehr qualifizierte MitarbeiterInnen brauchen, deshalb sollten wir als Universität auch darauf bedacht sein, genau diese Arbeitskräfte auszubilden. Es sind Leute gefragt, die in der Lage sind, große Datenmengen zu analysieren beziehungsweise Methoden zu entwickeln, um diese zu nutzen. Um dieser Anforderung gerecht zu werden, ist die Universität gefordert, maßgeschneiderte Masterstudiengänge anzubieten, etwa um Aspekte der Betriebswirtschaft und der Informatik miteinander zu vereinen.
uni:view: Woran forschen Sie zurzeit konkret?
Dörner: Im Rahmen unseres Christian-Doppler-Labors "Effiziente intermodale Transportsteuerung" beschäftigen wir uns zum Beispiel mit konkreten Anwendungsfeldern der Thematik Industrie 4.0. In Kooperation mit der Industrie-Logistik Linz, dem Logistikdienstleister der voestalpine stahl, entwickeln wir intelligente "coils", also die aufgewickelten Stahlbänder nach dem Walzprozess. Deren Position und Zustand werden mithilfe von RFID-Chips genau verfolgt, um effizientere Aus- und Einlagerungen zu betreiben – durch die gesammelten Möglichkeiten der verbesserten Informationslage.
Im Rahmen des von Karl Dörner an der Universität Wien geleiteten Christian Doppler Labors (CDL) forschen der Betriebswirt und sein Team seit Februar 2013 an der "effizienten intermodalen Transportsteuerung von Gütern und Personen". Christian Doppler Labors sind Forschungseinrichtungen, die von der Christian Doppler Forschungsgesellschaft zur Kooperation von Wissenschaft und Wirtschaft gefördert werden. Weitere Informationen
Wir beschäftigen uns außerdem intensiv mit Green Logistics und Green City Hubs (mehr zum Projekt Green City Hubs in uni:view). Hier versuchen wir, die Zusammenstellung von Fuhrparks in Städten zu optimieren, etwa durch effektivere Planung bei der Nutzung von Elektroautos. Die bisherigen Schwierigkeiten lagen darin, Ladestationen, Batteriewechselstationen und Umschlagzentren außerhalb des Stadtkerns intelligent anzuordnen. Bei der Verbesserung solcher Konzepte berücksichtigen wir grüne Ziele, wie etwa die Eindämmung von Emissionen und Lärmbelästigung. Generell liegt der Fokus unserer Forschungen in der Entwicklung von smarten Methoden für komplexe Probleme – Lösungen, die in der Realität anwendbar sind und einen Nutzen finden.
uni:view: Vielen Dank für das Gespräch! (hma)
Jedes Semester stellt die Universität Wien ihren WissenschafterInnen eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. In Interviews und Gastbeiträgen liefern die ForscherInnen vielfältige Blickwinkel und Lösungsvorschläge aus ihrem jeweiligen Fachbereich. Zur Semesterfrage
Mehr über Karl Dörner:
Karl Dörner ist seit 2014 Professor für Betriebswirtschaftslehre / Produktion und Logistik mit internationaler Schwerpunktsetzung an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften. Dörner promovierte an der Universität Wien und hat sich 2007 habilitiert. Nach einer Anstellung als Senior Researcher bei der Salzburg Research Forschungsgesellschaft und einer Vertretungsprofessur an der Universität Hamburg hielt er vor seiner Berufung an die Universität Wien zuletzt den Institutsvorstand am Institut für Produktions- und Logistikmanagement an der Johannes Kepler Universität Linz. In seiner Forschung beschäftigt er sich unter anderem mit den Feldern Computational Logistics, Entscheidungsunterstützungsystemen, Supply Chain Services, Logistik von verderblichen Gütern und im Gesundheitswesen.