"Ohne Migration gäbe es keinen Wohlstand"

Über den Zusammenhang von Lebensqualität und Migration und die Situation der ersten Generation von ArbeitsmigrantInnen, die Mitte der 60er Jahre nach Österreich kamen, spricht Soziologe Christoph Reinprecht im Interview zur Semesterfrage.

uni:view: Herr Reinprecht, inwiefern steht Lebensqualität im Mittelpunkt von Migration?
Christoph Reinprecht: Lebensqualität ist sowohl Beweggrund als auch ein Effekt von Migration. Ohne Migration gäbe es keinen Wohlstand. Betrachten wir allein die letzten 150 Jahre, ist der österreichische Wohlstand durch ausländische Arbeitskräfte oder Wanderarbeitskräfte, die z.B. beim Bau der Semmeringbahn oder der Kanalisierung und Einbettung der Donau tätig waren, miterzeugt worden.

uni:view: Sie haben einige Studien zur Situation der ersten Generation von ArbeitsmigrantInnen, die Mitte der 1960er Jahre nach Österreich kamen, durchgeführt. Diese sind mittlerweile vielfach in Pension. Wie blicken sie auf ihr Leben zurück und was sind ihre Pläne im Alter?
Reinprecht: Mich interessiert dieser Übergang in die nachberufliche Phase. Dazu gehören Fragen wie "Möchten Sie in Österreich bleiben?", "Was sind Ihre Erwartungen und Pläne?", " Wie gut fühlen Sie sich abgesichert?", etc. Bei meinen Untersuchungen sind mir einige widersprüchliche Dinge aufgefallen. So bewerteten beispielsweise viele GastarbeiterInnen die eigene Lebenssituation trotz Armut oder einem hohen Armutsrisiko, schlechter Wohnsituation etc. positiv. In der Lebensqualitätsforschung nennt man das ein Zufriedenheitsparadox, d.h. man zeigt Zufriedenheit, obwohl die Lebensverhältnisse eher negativ sind.

uni:view: Wie kommt es diesem Widerspruch bei dem Übergang in die Pension?
Reinprecht: Der Eintritt in die Pension ist meist eine Phase des Rückblicks und der Bewertung. Es hat sich gezeigt, dass als ein Kriterium für die Bewertung des persönlichen Erfolgs nicht primär unmittelbare ökonomische Gewinne gesehen werden. Natürlich ist der wirtschaftliche Aspekt von Bedeutung, aber zwei Dinge sind noch wichtiger, und diese beiden Dinge eignen sich meiner Meinung nach gut zur Erklärung von Migration.

uni:view: Und welche sind das?
Reinprecht: Erstens ob es gelungen ist, in die Zukunft gerichtete Investitionen zu tätigen – zum Beispiel in die Ausbildung der Kinder. Das wurde von den meisten Befragten wichtiger als der unmittelbare materielle Erfolg angesehen. Mindestens genauso wichtig ist zweitens das Kriterium des Grads der Autonomie. Wie weit bin ich in der Lage, meine Lebensbedingungen zu kontrollieren, und welche Handlungsspielräume habe ich? Es hat sich gezeigt, dass Selbstbestimmung bzw. Autonomie die zentralen Kriterien sind, um die eigene Migration positiv zu bewerten. Im Großen und Ganzen geht der überwiegende Teil der ersten Generation von GastarbeiterInnen mit einer subjektiv recht hoch empfundenen Lebensqualität in die nachberufliche Phase.

Jedes Semester stellt die Universität Wien ihren WissenschafterInnen eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. In Interviews und Gastbeiträgen liefern die ForscherInnen vielfältige Blickwinkel und Lösungsvorschläge aus ihrem jeweiligen Fachbereich. Zur Semesterfrage 2016


uni:view: Sie haben erst kürzlich das zweijährige Projekt "Einfluss der Migration auf Leistungserbringung und Inanspruchnahme von Pflege- und Betreuungsleistungen in Wien" abgeschlossen. Was kam dabei heraus?
Reinprecht: Gerade pensionierte ArbeitsmigrantInnen nehmen soziale Dienste sehr wenig in Anspruch. Sie suchen eher alternative Wege. Hier herrscht eine hohe Handlungskompetenz vor, an die die Stadtverwaltung anknüpfen muss. Es geht nicht darum zu sagen: Wir bauen jetzt spezielle PensionistInnenwohnhäuser, die dann nicht in Anspruch genommen werden, sondern man muss Brücken bauen, um Lösungen zu finden, d.h. die bisherigen Alternativen mit institutionellen Angeboten zu verknüpfen.

uni:view: Können Sie ein Beispiel nennen?
Reinprecht: Nehmen wir ein simples Beispiel wie "Essen auf Rädern". Mittlerweile wird dort auch schweinefleischfreies Essen und Halāl-Fleisch angeboten. Das ist gut, aber es wichtig, dass es auch symbolisch markiert wird, also nicht nur das Angebot angepasst wird, sondern diese Änderung auch glaubwürdig ist. Viele ArbeitsmigrantInnen erleben primär eine randständige und unsichtbare Gesellschaftspositionierung. Wenn ich aus so einer Position heraus soziale Dienste in Anspruch nehme, dann ist das Vertrauen möglicherweise nicht so hoch. Deshalb ist die symbolische Sichtbarmachung wichtig.

uni:view: Was folgt daraus für die Politik und Wissenschaft?
Reinprecht: Wir müssen von dem tief verankerten und verbreiteten defizitorientierten Modell wegkommen, da es Viktimisierung und Marginalisierung noch stärkt. Also nicht stets vom Mangel und Unvermögen ausgehen, sondern uns mehr auf Befähigungsansätze fokussieren. Das heißt natürlich nicht, dass es keine Benachteiligungen gibt, aber es ist wichtig sich anzuschauen, in welchen Kontexten Handlungsfähigkeit entsteht. Migration ist auch Leiden, aber allen voran eine schöpferische Tätigkeit, wie Vilém Flusser formuliert hat.

uni:view: Was ist Ihre Antwort auf unsere Semesterfrage "Wie verändert Migration Europa"?
Reinprecht: Die Frage müsste eigentlich lauten: Gibt es ein Europa ohne Migration? Europa ist historisch gesehen ein Auswanderungskontinent. Die Frage, wie Migration Europa verändert, ist eng verbunden mit der Frage, wie Migration Europa bisher strukturiert hat. Migration heißt ja nicht nur Arbeitsmigration, Familiennachzug oder Flucht bzw. Asyl, sondern auch Deportation, Zwangsmigration und Bevölkerungsverschiebung, sei es durch Ethnonationalismus, totalitäre Regime oder koloniale Gewalt. Diese strukturellen Faktoren wirken bis in die heutige Zeit. Deshalb ist die Aufarbeitung von Migration enorm wichtig. Europa kann es nur geben, wenn es Migration gibt.

uni:view: Vielen Dank für das Interview! (mw)


Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Christoph Reinprecht lehrt und forscht am Institut für Soziologie der Fakultät für Sozialwissenschaften und ist wissenschaftlicher Leiter des Universitätslehrgangs Europäische Studien. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Migrationsforschung, Sozialstruktur und soziale Ungleichheit, Politische Soziologie sowie Theorie und Methodologie partizipativer Interventionsforschung.

VERANSTALTUNGSTIPP: Podiumsdiskussion zur Semesterfrage

Am 20. Juni 2016 (18 Uhr, Großer Festsaal, Hauptgebäude) haben Sie die Gelegenheit, die Semesterfrage mit ExpertInnen aus Wissenschaft und Praxis live zu diskutieren. Am Podium: Migrationsrechtsexpertin Christine Langenfeld (Universität Göttingen) – sie hält das Impulsreferat zum Thema "Eine gute Migrationspolitik braucht mehr Europa!" sowie von der Universität Wien Migrationsforscher und Vizerektor Heinz Faßmann, EU-Expertin Gerda Falkner, Osteuropa-Historiker Philipp Ther und Politikwissenschafterin Alev Cakir. Es moderiert Petra Stuiber (Der Standard).

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