"Migration als Chance, über uns nachzudenken"

Im Interview anlässlich der Semesterfrage "Wie verändert Migration Europa?" erklärt Türkei- und Afghanistanexpertin Gabriele Rasuly-Paleczek warum sie den EU-Türkei-Deal für absurd hält, und berichtet über die schwierige Situation in Afghanistan, die vom Westen nahezu negiert wird.

uni:view: Frau Rasuly-Paleczek, Sie sind genaue Kennerin der Türkei. Was sagen Sie zum kürzlich abgeschlossen Deal der EU mit der Türkei?
Rasuly-Paleczek: Ich halte diesen Deal für ziemlich kurzsichtig, da man meiner Meinung nach Erdogan nicht vertrauen kann. Es ist problematisch, sich auf einen türkischen Präsidenten zu verlassen, der gleichzeitig KritikerInnen, darunter auch WissenschafterInnen an türkischen Universitäten, bedrohen und entfernen lässt. Eine gute Bekannte von mir ist unmittelbar betroffen. Der Prozess der schleichenden Diktatur läuft schon länger, wird aber im Westen nicht wirklich wahrgenommen.

uni:view: In Kürze werden TürkInnen kein Visum mehr für Europa benötigen. Was bedeutet das Ihrer Meinung nach für Europa?
Rasuly-Paleczek: Es ist möglich, dass dadurch eine zusätzliche Migrationsbewegung entsteht. Die Türkei steht wirtschaftlich nicht mehr so gut da wie früher. Wenn der Tourismus jetzt auch noch einbricht, weil sich viele Leute durch die Attentate verunsichert fühlen, wird das auf Europa Auswirkungen haben.

uni:view: Wie realistisch sehen Sie einen EU-Beitritt der Türkei?
Rasuly-Paleczek: Das kann ich mir nicht vorstellen. Die Chancen dafür waren am Beginn der Regierungsperiode Erdogans höher, da präsentierte er sich als lupenreiner Demokrat. Erdogan begann damals den Dialog mit den Kurden und gestand ihnen Minderheitenrechte zu. Persönlich habe ich immer meine Zweifel gegenüber der Glaubwürdigkeit von Erdogans Politik gehabt. Mittlerweile hat er systematisch alle Institutionen unterwandert, möglicherweise inklusive des Militärs. Zudem ist bekannt, dass Erdogan und sein Umfeld extrem korrupt sind. Und daher stellt sich mir die Frage, inwieweit die sechs Milliarden Euro von der EU wirklich für Flüchtlinge verwendet werden.

Jedes Semester stellt die Universität Wien ihren WissenschafterInnen eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. In Interviews und Gastbeiträgen liefern die ForscherInnen vielfältige Blickwinkel und Lösungsvorschläge aus ihrem jeweiligen Fachbereich. Zur Semesterfrage 2016

uni:view: Wie wird es den Flüchtlingen, die die EU seit 4. April in die Türkei zurücksendet, ergehen?
Rasuly-Paleczek: Die Türkei akzeptiert die Genfer Flüchtlingskonvention nur mit Einschränkungen. Und das wird bei uns überhaupt nicht diskutiert. Derzeit anerkennt die Türkei nur Flüchtlinge, die aus Europa sind, nicht aber Flüchtlinge z.B. aus Afghanistan oder dem Irak. Das hängt damit zusammen, dass die türkische Republik nach der Etablierung kommunistischer Regime in Europa Flüchtlinge in großer Zahl aus Ex-Jugoslawien und Bulgarien aufgenommen hat.

uni:view: Was bedeutet dies nun z.B. für Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak?
Rasuly-Paleczek: Sie können in der Türkei nicht um Asyl ansuchen, nur über die UNO. Und ein solches Verfahren läuft sehr lange. Haben sie einen Antrag bei der UNO gestellt, können sie dann zumindest nicht deportiert werden. Die UNO müsste ein drittes Land zum Resettlement suchen, nur: Es gibt keine Länder, die die Flüchtlinge aufnehmen wollen.

uni:view: Syrien und seine Flüchtlinge sind im Moment natürlich in aller Munde. Weniger hört man von Flüchtlingen aus anderen Ländern …
Rasuly-Paleczek: Ja, zum Beispiel aus dem Iran, von ihnen redet überhaupt keiner mehr. Auch wenn sich die USA und Europa nun dem Iran geöffnet haben, ist er natürlich nach wie vor kein Hort der Menschenrechte. Und Afghanistan. Es wird ja behauptet – auch von unserer Regierung –, dass Afghanistan ein sicheres Land sei. Dort findet zwar kein so umfassender Bürgerkrieg statt wie aktuell in Syrien, aber die Zahl der gewaltsamen Vorfälle nimmt – seitdem die internationalen Truppen weg sind – dramatisch zu. In 31 der insgesamt 34 afghanischen Provinzen sind die Taliban mittlerweile wieder präsent.

uni:view: Bleiben wir bei Afghanistan. Können Sie aktuelle Lage vor Ort kurz skizzieren?
Rasuly-Paleczek: Nach 2001 hat die UNO rund 4,5 Millionen afghanische Flüchtlinge, die meisten davon aus dem Iran und Pakistan, zurückgeführt. Den Menschen ist die Fahrt bezahlt worden, und sie haben von der UNO eine Plastikplane und ein paar Haushaltsartikel bekommen. Das war die sogenannte Neustarthilfe. Das Problem war, dass die Menschen nicht mehr in ihre ursprünglichen Heimatdörfer zurückkehren konnten, weil inzwischen andere Leute die verlassenen Grundstücke besetzt haben. Das heißt, viele der Rückkehrer sind heute Slumbewohner in Kabul.

Kabul ist im Moment die am fünftschnellsten wachsende Metropole der Welt. In der Zeit der Taliban hatte die Hauptstadt weniger als eine Million EinwohnerInnen – jetzt leben dort zwischen 3,7 und 4,6 Millionen Menschen, davon 60 bis 70 Prozent in Slums. Der Grund, warum viele Afghanen und Afghaninnen heute nach Europa fliehen, liegt daran, dass die klassischen Fluchtländer, Iran und Pakistan, wegfallen. Beide Länder schieben seit geraumer Zeit in umfassender Weise afghanische Flüchtlinge ab, auch solche, die dort geboren sind.

uni:view: Das heißt, die Zahl an afghanischen Flüchtlingen ist nach wie vor hoch?
Rasuly-Paleczek: Ja. Wenn man sich die Asylstatistik anschaut, zeigt sich, dass die AfghanInnen im letzten Jahr zahlenmäßig annähernd gleich mit syrischen Flüchtlingen waren. Wobei aber die Anerkennungsquote von AsylwerberInnen aus Afghanistan deutlich geringer ist.

uni:view: Fliehen auch hier gleich ganze Familien?
Rasuly-Paleczek: Nein. Die AfghanInnen liegen bei der Zahl der unbegleiteten Minderjährigen deutlich voran, meistens sind das Buben. Hier ist die Strategie der Familien, dass sie die Kinder vorschicken, um Familiennachzug zu erreichen. Und wenn das nicht funktioniert, sollen die Kinder Geld schicken. Damit geraten diese Kinder und Jugendlichen unter enormen Druck. Manche von ihnen gehen inzwischen auf den Strich, um das Geld für die Eltern zu verdienen. Diese haben sich mit der Finanzierung der Flucht der Kinder oft hoch verschuldet. Das trifft für SyrerInnen sicher auch zu, nur ist bei Menschen aus Syrien derzeit die Chance, dass ihre Situation geregelt wird, weitaus höher.

uni:view: Zum Abschluss, unsere zentrale Frage an Sie. Wie verändert Migration Europa?
Gabriele Rasuly-Paleczek: Es ist eine ungeheure Herausforderung, Personen, die mit anderen Erfahrungen zu uns kommen, partizipieren zu lassen. Gleichzeitig ist es auch eine Chance über uns nachzudenken. Es ermöglicht uns eine Art Reflexion, darüber wer wir eigentlich sind. Insgesamt verlangt die Situation eine ungeheure Toleranz und Offenheit. Parallel dazu besteht eine große Gefahr, dass es zu Nationalismen kommt.

uni:view: Vielen Dank für das Gespräch! (td)