Betreuung von Geflüchteten: "Erste Hilfe für die Seele"

Viele vom Krieg Geflüchtete leiden unter massiven Traumafolgestörungen. Österreich braucht mehr Angebote an psychosozialer Betreuung, sagt Psychologin Brigitte Lueger-Schuster von der Universität Wien. Aber auch neue Ergebnisse aus der Forschung sind gefragt.

uni:view: Frau Lueger-Schuster, wie geht man in Österreich damit um, dass viele der ankommenden Geflüchteten Grauenhaftes erlebt haben?
Brigitte Lueger-Schuster: Indem man sich um die Leute kümmert, zuhört, nachfragt und ihnen langsam erklärt, was es bedeutet, psychosoziale Betreuung in Anspruch zu nehmen. Über das Land verteilt gibt es Zentren, die psychotherapeutische, klinisch-psychologische und medizinische Hilfe anbieten und während des Asylprozesses ihre Unterstützung zur Verfügung stellen: Das passiert über spezifisch ausgebildete PsychotherapeutInnen, PsychologInnen sowie DolmetscherInnen. Aber viele Zentren sind überfordert und die Wartezeiten sind lang.

uni:view: Warum?
Lueger-Schuster: Einerseits fehlt oft das Geld, um Personal aufzustocken, andererseits gibt es gar nicht ausreichend qualifizierte Leute in Österreich. Der Job erfordert viel Erfahrung und Kenntnis in den Bereichen Psychotraumatologie, Interkulturelle Kommunikation und nicht zuletzt auch im Asylrechtswesen. Die Behörden sind zwar für die soziale und medizinische Versorgung zuständig, delegieren diese aber gerne an NGOs weiter – z.B. im Rahmen der Beherbergung.

uni:view: Dazu kommt, dass viele Geflüchtete gar nicht wissen, was Psychotherapie oder klinische Psychologie ist und wie ein Sozialarbeiter helfen kann.
Brigitte Lueger-Schuster:
In bestimmten Regionen, v.a. in Afghanistan, gibt es diese Konzepte gar nicht. Hier muss man sozusagen erst "alphabetisieren". Bei den SyrerInnen ist das etwas anders. Diese kennen den Begriff Psychiatrie, wissen aber zumeist wenig über Psychologie oder Psychotherapie.

uni:view: Wird in den Lagern und Flüchtlingsheimen die Traumatisierung verstärkt?
Lueger-Schuster: Leider, ja. Wir sprechen dann von sogenannten "Triggern", das sind Reize, die einen Menschen mental sehr schnell wieder in die Situation, in der das Trauma erlitten wurde, zurückführen können. Steht das Trauma z.B. in Verbindung mit Wasser oder Meer, so reicht es mitunter sogar, wenn es irgendwo blubbert. Ein andermal ist der Trigger das Hören einer bekannt klingenden Stimme, das eine Person in die ursprüngliche Trauma-Situation zurückversetzt, also re-traumatisiert.

uni:view: Wie kann man sich von solchen Traumata erholen?
Lueger-Schuster: Wir wissen, dass man sich nur dann ein Stück weit erholt und entspannt, wenn es eine gute soziale Grundversorgung gibt. Aber davon sind wir in Österreich weit entfernt. Das gilt vor allem für jene, die noch kein Asyl haben oder nicht sicher sind, überhaupt eines zu erhalten – dieser Stress verstärkt die Trauma-Symptomatik. Sicherheit, soziale Stabilität und Ruhe sind ganz wesentliche Elemente, um große Gruppen von Menschen in solchen Situationen zu entlasten. Und natürlich die Hoffnung darauf, dass die Situation besser wird. Und das ist für viele so ganz und gar nicht gegeben. Die meisten NGOs wissen das zwar, haben aber wenige Möglichkeiten, daran etwas zu ändern.

uni:view: Die Fakultät für Psychologie hat die Veranstaltungsreihe "wiehelfen?" ins Leben gerufen, wo u.a. freiwillige HelferInnen zu Wort kommen. Wo stoßen Freiwillige in der Flüchtlingsarbeit an ihre Grenzen?
Lueger-Schuster: Ein Studierender, der sich als Nachtportier in einem Flüchtlingsheim engagierte, fragte z.B.: "Was mache ich, wenn Nacht für Nacht immer derselbe Bursche von Alpträumen gequält zu mir kommt?" Auch ganz furchtbare Selbstverletzungen kommen immer wieder vor. Dann stellt sich die Frage: Gibt es einen Arzt oder eine Ärztin oder geschulte SozialarbeiterInnen im Haus? Viele Freiwillige machen aber die Erfahrung, dass es vor Ort niemanden gibt, der für solche Fälle zuständig ist.

Im Oktober 2015 startete an der Fakultät für Psychologie die Veranstaltungsreihe "wiehelfen?" zum Thema Flucht, Asyl und freiwilliges Engagement. "Studierende, die sich freiwillig in der Flüchtlingsarbeit engagieren, sind mit dieser Idee an uns herangetreten", so Lueger-Schuster zur Entstehungsgeschichte. Im Bild Vizerektor Heinz Faßmann und Brigitte Lueger-Schuster bei einer Podiumsdiskussion zum Thema "Flucht, Asyl und freiwilliges Engagement". (Foto: Germain Weber, Universität Wien)

uni:view: Was schlagen Sie als Expertin vor?
Lueger-Schuster: Es braucht ein Netzwerk an professionell ausgebildeten Menschen, die von den Helferinnen und Helfern bei Bedarf herangezogen werden können. Und natürlich sollten jene, die (ehrenamtlich) mit Flüchtlingen arbeiten, auch geschult werden: Sie müssen wissen, was bestimmte Symptome bedeuten. Beispiel: Ein Geflüchteter ist nicht in der Lage, sich einen bestimmten Ablauf zu merken, der aber erforderlich ist, um sein Kind in die Schule zu schicken. Die Betreuerin erklärt ihm den Ablauf zwar immer wieder, ist aber irgendwann genervt. Dabei sind solche "Gedächtnislücken" meist Ausdruck einer ganz massiven Traumatisierung.  

uni:view: Was können weitere Symptome sein?

Lueger-Schuster: Alpträume oder alptraumhafte Tagträume, extreme Gereiztheit bzw. Aggressivität, totale Ruhelosigkeit oder mangelnde Konzentrationsfähigkeit. Das und diese "Gedächtnislücken" sind starke Vermeidungstendenzen, mit denen Menschen versuchen, sich abzuschotten und zu vergessen, was sie nicht vergessen können.
 
Über solche psychotraumatologischen Prozesse muss man aufklären und informieren. Wenn ein Betreuer oder eine Betreuerin weiß, was ein scheinbar bizarres Verhalten bedeutet, kann er oder sie auch besser damit umgehen und einfache Maßnahmen setzen – manchmal reicht ein Spaziergang, damit sich der Betroffene beruhigen kann.

uni:view: Wie ist es bei Kindern?
Lueger-Schuster: Während Erwachsene in der Regel das Erlebte beschreiben können, sagt ein Kind, es hat Bauchweh, Kopfweh oder kann nicht schlafen. Es ist unkonzentriert, hat Probleme, sich mit anderen Kindern anzufreunden, weint viel, oder schlägt um sich oder beginnt schnell zu toben. Es ist einfach "schlecht zu haben". Sind Kinder wirklich intensiv betroffen, sieht man das auch am "traumatischen Spiel" – dabei wird das Erlebte nachgespielt. Wobei die Kinder nicht einfach Krieg "spielen", sondern etwas "wieder erleben". In solchen Fällen sollten LehrerInnen oder Eltern – sofern es diese gibt –, rasch SchulärztInnen oder SchulpsychologInnen hinzuziehen. Letztere werden von der Stadt Wien entsprechend geschult.

Es gibt aber auch Kinder, die sich dazu entschließen, so schnell wie möglich Fuß zu fassen. Sie sind exzellent in der Schule, integrieren sich wunderbar, managen den familiären Alltag und haben eine hohe Anforderung an sich selbst. Das halten sie meist einige Jahre durch. Irgendwann geht ihnen aber die Kraft aus und sie brechen zusammen.

uni:view: Kann sich eine Traumatisierung auch auf das Asylverfahren auswirken?
Lueger-Schuster: Zum Beispiel dann, wenn ein Asylwerber anfängt, dem Richter seine Geschichte zu erzählen, aber dann mit einem Mal abbricht. Der Richter gibt einen negativen Asylbescheid, weil ihm die Informationen fehlen. Aber vielleicht hat es diese Person einfach vermieden, sich wieder mit einer traumatischen Situation zu konfrontieren.

Jedes Semester stellt die Universität Wien ihren WissenschafterInnen eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. In Interviews und Gastbeiträgen liefern die ForscherInnen vielfältige Blickwinkel und Lösungsvorschläge aus ihrem jeweiligen Fachbereich. Zur Semesterfrage 2016

uni:view: Was ist Ihre Antwort auf unsere Semesterfrage "Wie verändert Migration Europa"?
Brigitte Lueger-Schuster: Migration hat Europa bereits intensiv verändert und gespalten. Und ich fürchte, dass die Wahrnehmung der aktuellen Migrationsbewegung Europa noch mehr spalten wird und dass es zu einer weiteren Abwärtsspirale in der Wahrung der Menschenrechte kommt, die in Europa ja eine große Tradition haben. Aber es gibt auch eine positive Sichtweise: Die Menschen, die zu uns kommen, bringen viel mit – von Kulinarik über Kunst und Kultur. Migration kann also auch sehr bereichernd sein – aber nur, wenn wir uns darauf einlassen. Wenn nicht, wird sich die Stimmung in Europa weiter verschärfen.

Brennende Asylheime oder Terroristen mit Migrationshintergrund: Die Wurzeln dafür finden sich in der mangelnden Fürsorge und fehlenden Perspektive. Beides sind Dinge, die die Menschen brauchen, damit sie sich gut entwickeln können und beides könnten wir geben!

uni:view: Wie viel Prozent der Flüchtlinge brauchen überhaupt eine intensive psychologische Betreuung?
Lueger-Schuster: Leider kennen wir die genaue Zahl derer nicht, die tatsächlich massiv belastet sind und unter Traumafolgestörungen leiden. Daher denke ich über ein entsprechendes Forschungsprojekt nach. Weltweite Flüchtlingsstudien belegen jedoch, dass die Zahl zwischen 30 und 70 Prozent liegt. Auf jeden Fall besteht dringender Handlungsbedarf. Traumatisierten Menschen die nötige psychosoziale Hilfe zukommen zu lassen, unterstützt bei der Integration und wirkt auch präventiv gegen Radikalisierung – sie geraten nicht so schnell ins soziale Abseits.
 
uni:view: Im Sinne von "Prävention ist besser als Nachsorge"?

Lueger-Schuster: Auf jeden Fall. Durch ein Nicht- oder zu wenig Vorhandensein psychosozialer Unterstützung kann die Ärger- und Wutreaktion bei den Menschen stärker werden. Hilflosigkeit, Ungerechtigkeits-Empfinden und Kontrollverlust machen wütend. Wir schaffen auf diese Art die Probleme der Zukunft. Dabei hätten wir es über die entsprechende Hilfe in der Hand, dass Flüchtlinge zu einer Bereicherung der österreichischen Gesellschaft werden.
 
uni:view: Wenn Sie Entscheidungsträgerin wären, was würden Sie unternehmen?

Lueger-Schuster: Ich würde einen Forschungsauftrag geben, um herauszufinden, welche Maßnahmen zu setzen sind: Was sind die wirklichen Leiden von geflüchteten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen? Und ich würde die vorhandenen Zentren zur psychosozialen, psychotherapeutischen und klinisch-psychologischen Betreuung fördern. Außerdem würde ich in Erfahrung bringen lassen, welche Interventionen eine schnelle Wirksamkeit erzeugen. Sprich: Gibt es sowas wie erste Hilfe für die Seele? Ich sage: Ja, die gibt es und wir kennen die Prinzipien, man muss sie nur umsetzen – aber das kostet natürlich Geld.

uni:view: Vielen Dank für das Interview!
(ps)