Die digitale Zukunft ist bereits Gegenwart

Emotionen, Empathie und Uneigennützigkeit spielen in zwischenmenschlichen Beziehungen eine tragende Rolle. Wie verhält es sich jedoch im Zusammenspiel mit Maschinen und künstlicher Intelligenz? Der Kognitionspsychologe und Neurowissenschafter Claus Lamm wagt im Gespräch mit uni:view einen Ausblick.

uni:view: Die Entwicklung künstlicher Intelligenz ist auf dem Vormarsch. Inwieweit kann eine Maschine denn empathisch sein, fühlen oder altruistisch handeln?
Lamm: Uneigennützig kann eine Maschine auf jeden Fall handeln, weil Altruismus per Definition keine Intention braucht. Maschinen können Belastungen eingehen, etwa um Menschen zu schonen: Wenn ein Roboter immer dann in ein brennendes Haus geht, wenn es einem Feuerwehrmann nicht mehr möglich ist, kann man die Maschine als altruistisch bezeichnen – zumal sie ja riskiert, beschädigt zu werden. Natürlich begeben wir uns damit in eine philosophische Debatte: Ist bei einer Maschine ein "sense of agency" oder ein Selbstbewusstsein nötig, damit man von Altruismus sprechen kann? Die Maschine ist also nur auf der Verhaltensebene altruistisch.

Empathie hingegen, so wie wir sie in der Kognitionswissenschaft definieren, setzt die Fähigkeit voraus zu fühlen, was jemand anderes fühlt. Nur zu wissen, dass es jemandem schlecht geht, ist noch keine Empathie, sondern Perspektivenübernahme und kognitive Bewertung. Man müsste also von einer Maschine ausgehen, die dahingehend programmiert ist, Emotionen zu empfinden. Zur Frage, ob das möglich ist, scheiden sich allerdings die Geister.

uni:view: Was glauben Sie?
Lamm: Die Existenz fühlender Maschinen ist vorstellbar. Aber das hängt auch davon ab, wie wir Fühlen definieren. Wenn man etwa künftig Maschinen baut, die beim Erleiden von "Schmerzen", also bei Beschädigungen, über ein Modul verfügen, das eine negative, aversive Belastung der Maschine anzeigt, könnte man von einer Vorstufe einer emotionalen Antwort sprechen. Wenn diese Reaktion das Verhalten der Maschine steuert, sie also versucht, dem Schaden zu entgehen, spricht dies ebenfalls für eine Vorstufe von Emotionalität. Aber auch das ist natürlich eine philosophische Frage. Kann etwas Unbelebtes ähnliche Eigenschaften aufweisen wie etwas Belebtes?

uni:view: Angenommen, eine Maschine schneidet sich in den Finger. Ist denn ein Sensor, der ihr sagt, dass das weh tut und sie ihren Finger zurückziehen soll, bereits eine Schmerzemotion?
Lamm: Zunächst ist es noch keine Schmerzemotion, es ist eine sensorische Empfindung. Die Emotion entsteht erst nach der Wahrnehmung: im Zuge einer Bewertung. Nehmen wir an, ein Mensch beißt sich in den Finger: Durch den Druck des Bisses kommt es zu einem physiologischen Prozess an den Nervenenden der Fingerkuppe. Überschreitet dieser Druck eine gewisse Schwelle, generiert das Nervenende ein Aktionspotenzial, das zum Gehirn hinauf wandert. Die emotionale Komponente des Schmerzes entsteht allerdings erst, nachdem ich diese sensorische Empfindung wahrgenommen habe. Der Biss könnte ja auch als lustvoll empfunden werden, wenn einem beispielsweise der Partner in den Finger beißt (lacht).

uni:view: Die Bewertung des gleichen sensorischen Signals kann also positiv oder negativ ausfallen?
Lamm: Genau. Die weitere Verarbeitung ist das Entscheidende. Deshalb stellt es wohl auch eine große Herausforderung dar, Maschinen das Fühlen bzw. Emotionen beizubringen.

VERANSTALTUNGSTIPP:
Diskutieren Sie mit Claus Lamm und weiteren ExpertInnen aus Wissenschaft und Praxis über "Künstliche Intelligenz im Alltag; Besser als der Mensch?" im Rahmen der Podiumsdiskussion zur Semesterfrage am 16. Jänner 2016.

uni:view: Inwieweit hat die Wissenschaft denn Emotionen beim Menschen bislang verstanden?
Lamm: Auch das hängt davon ab, wie wir Verstehen definieren. Die Mechanismen, die Emotionen zugrunde liegen, verstehen wir mittlerweile wesentlich besser als noch vor zehn Jahren. Aber das Buch ist noch lange nicht geschlossen, bei weitem nicht. Wir können nur eingeschränkt ins Gehirn schauen. Aber auch wenn Gehirnscans heute Dinge sichtbar machen, die wir vor 20 Jahren noch gar nicht kannten, sind die Neurowissenschaft und auch die Psychologie keine derart exakten Wissenschaften wie etwa Physik oder Chemie, zumindest bislang. Um Emotionen umfassend zu verstehen ist deshalb eine möglichst interdisziplinäre Herangehensweise wichtig, die physikalische, chemische, psychologische, neurowissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Ansätze umfasst.

uni:view: Die Kognitionspsychologie setzt sich vordergründig damit auseinander, wie die "Maschine Gehirn" funktioniert, weniger damit, wie sie eingesetzt wird. Spielen digitale Phänomene wie die kollektive Anteilnahme an öffentlichen Ereignissen à la "Pray for Paris" für Ihre Erforschung von Empathie eine Rolle?
Lamm: Klar, das spielt eine Rolle. Jedoch sind wir als KognitionsforscherInnen meistens an der Frage interessiert, wie Gedanken und Emotionen innerhalb des Gehirns zustande kommen, also was auf kognitiver Ebene passiert. Wir beobachten nicht im phänomenologischen Sinne, ob die Empathie durch solche Entwicklungen zu- oder abnimmt, oder unter welchen Einschränkungen dies passiert. Diese Mechanismen interessieren uns natürlich auch – als Implikation unserer Forschung, also um zu erklären, warum in manchen Situationen mehr oder weniger Empathie vorhanden ist als im Regelfall.

uni:view: Welche Konsequenzen ergeben sich aus den Entwicklungen der Digitalisierung für Ihr Forschungsfeld?
Lamm: Offen gestanden halten sich die Konsequenzen für meine Forschung bislang in Grenzen. Wir beschäftigen uns mit Empathie, Altruismus und verwandten Themen – also Themen, die man mit und ohne Digitalisierung untersuchen kann. 

uni:view: Gibt es Anzeichen dafür, dass sich unser Gehirn durch digitale Kommunikation über Smartphones und andere Geräte, die uns das Denken "abnehmen", grundlegend verändert?
Lamm: Das Gehirn in seiner prinzipiellen Funktionsweise wird sich nicht grundlegend ändern, dazu ist es prinzipiell zu flexibel und plastisch aufgebaut. Was sich sehr wohl ändern könnte, ist die Häufigkeit der Verarbeitung von bestimmten Informationen, und dadurch werden möglicherweise auch bestimmte Gehirnstrukturen "intensiver trainiert" werden. Wir sprechen aber auch dann wohl eher von quantitativen und nicht von qualitativen bzw. grundlegenden Veränderungen. Aber wie so oft beim Blick in die Zukunft sollte man vorsichtig sein, ich kann mich also auch schwer täuschen. Schauen wir in 25 Jahren nochmal (lacht).

uni:view: Wie leben wir in der digitalen Zukunft?
Lamm: Zunächst stellt sich die Frage, wie man "Leben" definieren will, da gibt es natürlich unterschiedliche Aspekte. In gewissem Sinne führen wir bereits ein digitales Leben. Die Veränderungen, die von Entwicklungen wie Web 2.0, Social Media, Smartphones und Apps ausgehen, sind enorm. Wenn man zehn Jahre oder noch weiter zurückspult, hat die Welt doch sehr anders ausgesehen. Mittlerweile kann man wahrscheinlich ohne Smartphone kaum mehr überleben, oder manche glauben es zumindest.

Die Digitalisierung hat längst stattgefunden und durchdringt alle Lebensbereiche. Ich nehme auch an, dass diese Entwicklung anhalten wird. Die Barriere zwischen realer, physischer Welt und digitaler, virtueller Welt verschwindet zusehends – man denke beispielsweise an den Pokémon Go-Hype vor einiger Zeit.

Das Zeitalter der virtuellen Realität wurde schon in der Vergangenheit schon mehrfach herbeibeschworen, wie etwa es mit der Entwicklung von Virtual-Reality-Brillen. Spätestens mit diesem Spiel wurde die virtuelle Realität im Hinblick auf die Breitenwirksamkeit zu Wirklichkeit. Das Voranschreiten von VR-Brillen wird auch durch die vorhandene Smartphone-Technologie beschleunigt. Mithilfe eines Pappkartons lassen sich bereits Smartphones zu VR-Brillen umfunktionieren und können dadurch zur Massentechnologie aufsteigen. Ich denke, das ist das Entscheidende:

Je mehr Menschen potenziell eine gewisse Technologie verwenden können, desto mehr wird die Entwicklung jener Technologie vorangetrieben.


Das schaukelt sich dann natürlich auf, multipliziert sich. Dabei entstehen letzten Endes kreative, neue Entwicklungen, die man vorher nicht antizipieren konnte.

uni:view: Vielen Dank für das Gespräch! (hma)

Jedes Semester stellt die Universität Wien ihren WissenschafterInnen eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. In Interviews und Gastbeiträgen liefern die ForscherInnen vielfältige Blickwinkel und Lösungsvorschläge aus ihrem jeweiligen Fachbereich. Zur Semesterfrage 2016/17

Mehr über Claus Lamm:
Univ.-Prof. Mag. Dr. Claus Lamm ist Professor für Biopsychologie am Institut für Psychologische Grundlagenforschung und Forschungsmethoden der Fakultät für Psychologie und leitet die Social, Cognitive and Affective Neuroscience Unit. Er ist Vizedekan der Fakultät für Psychologie und Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Er forscht schwerpunktmäßig zu psychologischen und biologischen Mechanismen, die sozialer Kognition, Affekten und Verhalten zugrunde liegen.