Menschen vergessen, das Internet nicht

Die vorprogrammierte Unsterblichkeit, Google in der Stratosphäre und "Happy Slapping" in der Wiener Donaustadt: Für uni:view wirft Kommunikationswissenschafterin Gerit Götzenbrucker einen Blick in die digitale Zukunft – mal euphorisch, mal besorgt.

uni:view: Sie beschäftigen sich in Ihrer Forschung an der Universität Wien mit Medieninnovationen – wie sehen die digitalen Medien von morgen aus?
Gerit Götzenbrucker:
360-Grad-Videos, virtuelle Realitäten – Dinge, an denen InformatikerInnen bereits seit 30 Jahren forschen. Solche 3D-Verfahren eignen sich für die Immersion, für das Eintauchen in andere Welten. Mittels 3D-Brillen kann man sozusagen im Wohnzimmer verreisen, mit Delfinen schwimmen oder Achterbahn fahren – manchmal so real, dass NutzerInnen gegen Wände laufen.

Ich denke, dass sich diese Immersions-Technologie zuerst in der Pornoindustrie durchsetzen könnte. Dort kann sie natürlich stark missbraucht werden, auf der anderen Seite werden Sexualitäten z.B. für Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen eröffnet. So gesehen hätte es auch etwas Positives.

uni:view: Sie erforschen auch Social Media-Praktiken – insbesondere junger NutzerInnen. Wie gehen Sie vor?
Götzenbrucker:
Wir wollen junge Menschen aus unterschiedlichen sozialen Klassen erreichen. Wir gehen in Jugend- oder Einkaufszentren und versuchen dort, Kontakte zu knüpfen. Das alles geschieht auf Augenhöhe und ohne den "mahnenden Zeigefinger". Es ist ja so, dass die jungen Menschen die eigentlichen ExpertInnen sind. Sie kennen gar nichts anderes als digitale Medien und haben dementsprechend ein ganz anderes Verständnis davon als wir. Wir befragen und beobachten sie in ihrer Umgebung – natürlich alles mit ihrem Einverständnis – und lassen uns Nachrichten, Videos, Bilder zeigen, die wir anschließend qualitativ analysieren.

uni:view: Was bekommen Sie da zu Gesicht?
Götzenbrucker:
Eine große Bandbreite! Was auffällt: Bilder fungieren oft als abgekürzte Kommunikationsformen. Viele NutzerInnen schreiben nicht "Ich kann gerade nicht sprechen, da ich mich beeilen und über eine Stiege zur U-Bahn laufen muss", sondern verschicken ein Bild der Stiege. Auch örtliche Tabus scheinen zu fallen: Wir haben zum Beispiel ein in Szene gesetztes Gruppenbild im Stephansdom gesehen oder Selfies auf Begräbnissen, die dann mit FreundInnen geteilt wurden.

In dem Projekt "Körper-Bilder – Software-Bilder?" beleuchten Gerit Götzenbrucker und ihre Kollegin Maria Schreiber Software-spezifische Bildpraktiken und Ästhetiken. Sie fragen, inwiefern Praktiken des Zeigens von privaten Fotografien durch mediale Spezifika unterschiedlicher Social Media bzw. Software mitkonstruiert werden. (Foto: Flickr.com/Hans Günter Everhartz)

uni:view: Warum wird denn überhaupt so viel über Social Media geteilt?
Götzenbrucker:
Social Media sind in gewisser Weise ein Rückzugsort vor den Eltern, wo Freiheiten ausgelebt werden. Die ältere Generation hat mittlerweile Facebook kolonialisiert, also ziehen die Jugendlichen weiter, nutzen vermehrt Snapchat oder Instagram Stories.

Darüber hinaus sind Social Media eine tolle Bühne des Selbstausdrucks – gerade für Jugendliche. Es wird dabei nachgeholfen – durch Enhancement- und Beautification-Apps wird alles schöner: reine Haut, große Augen, V-förmiges Gesicht. Es erinnert an Oscar Wildes "Das Bildnis des Dorian Gray" – wir können ein Lotterleben führen, aber in unserem Lifelog sind wir immer hübsch.

uni:view: Im Zusammenhang mit Social Media wird oftmals Entfremdung diskutiert. Haben sich zwischenmenschliche Beziehungen verändert?
Götzenbrucker:
Generell kann gesagt werden: Freundschaften kommen schneller zu Stande, werden aber auch schneller gelöst. Natürlich pflegen Jugendliche auch in digitalen Zeiten noch physischen Kontakt – im Park, im Kino, im Einkaufszentrum, das hängt ja auch mit der Geschlechtlichkeit zusammen. Aber die reale Welt überlagert sich mit der virtuellen Welt. Wenn mensch nicht vernetzt ist und keine Präsenz in den Social Media wahrt, kann der Anschluss an die Gruppe verloren gehen. Gerade in den niedrigeren sozialen Schichten können sich die Jugendlichen schlecht vom Medium befreien, da mangelt es natürlich auch an der Medienkompetenz.

uni:view: Kürzlich wurde ein Video aus der Wiener Donaustadt viral, in dem ein Mädchen von mehreren Personen misshandelt wird. Was steckt dahinter?
Götzenbrucker:
Vor rund zehn Jahren kam mit dem gerätetechnischen Fortschritt die – ausschließlich innerhalb jugendlicher Peergroups produzierte – quasi-dokumentarische Praxis des "Happy Slapping" auf: das öffentliche Ohrfeigen fremder Personen, das mit Handycams aufgezeichnet und in der Community weiterverbreitet wurde.

Diese Praxis wird auch heute noch vollzogen, allerdings technisch hochgerüstet und mit der Verbreitungsoption in Social Media Kanälen. Die Motive haben sich auch in Richtung Bloßstellung, Gewaltausübung und Beschämung weiter entwickelt, wie das Beispiel des Prügelvideos aus der Wiener Donaustadt zeigt. Hier wird nicht nur ein weibliches Opfer gedemütigt, geschlagen und beschimpft, es geschieht zudem in der Öffentlichkeit eines Einkaufszentrums und die Tat wird mehrheitlich von jungen Frauen ausgeführt und aufgezeichnet.

Gewaltvideo aus der Wiener Donaustadt
"Bandendelinquenz ist nichts Neues im Jugendalter. Neu sind die Verbreitungsmöglichkeiten dieser Schmähvideos und deren unendliche Existenz in den Weiten des Internets. Zum Zeitpunkt der Entfernung dieses Videos durch Facebook (viel zu spät) wurde es schon tausendfach geteilt und auf anderen Plattformen gespeichert. Das Opfer wird also mehrmals bis ewig brutal misshandelt", so Gerit Götzenbrucker.

uni:view: Welche Gefahren birgt der freizügige Umgang mit Daten im Internet?
Götzenbrucker:
Es ist eine Verführungstechnik. Wir sehen nur das oberste Interface, aber nicht das, was mitgespeichert wird. Die Zukunft von Google heißt Google Brain: Eine digitale Wolke regelt unser Leben, wir müssen die Informationen nicht mehr finden, sondern sie kommen zu uns. Mittels Google Loon, das in der Stratosphäre aufgebaut wird, soll Übertragungssicherheit auch bei z.B. Stromausfällen gesichert werden.

Das ist auf der einen Seite toll, auf der anderen Seite werden diese Big Data, welche die großen Player wie Google oder Facebook sammeln, zum neuen Erdöl. Mittels der gespeicherten Daten können Vorhersagen getroffen werden. Es kann zum Beispiel gelesen werden, wie sich eine Menschengruppe im Krisenzustand verhält – ob Panik herrscht, Medikamente gekauft oder Flugtickets gebucht werden. Diese Daten können natürlich auch in falsche Hände geraten. Viktor Mayer-Schönberg ist einer derjenigen, die warnen. In seinem Buch "Big Data. Die Revolution, die unser Leben verändern wird" stellt er die These auf, dass eine Gesellschaft je verwalteter, umso verletzlicher sei. Schließlich waren es die exakten Bevölkerungsregister in Nordeuropa, die den Weg für NationalsozialistInnen geebnet haben, um Juden und Jüdinnen ausfindig zu machen und sie zu deportieren.

VERANSTALTUNGSTIPP:

uni:view: Wir hinterlassen unsere Spuren im Netz, die auch mit dem Tod nicht verschwinden. Was passiert mit unserem "digitalen Nachlass"?
Götzenbrucker:
Der Zukunftsforscher John Smart prophezeit, dass in fünf Jahren mehr als 50 Prozent des Menschen digital sein werden, da ist die Unsterblichkeit natürlich vorprogrammiert. Mittels Hologrammen können wir verstorbene Menschen aus dem Netz holen, mit ihnen sprechen und interagieren – der physische Tod einer Person wird für die Hinterbliebenen leichter. Die großen Fragen, auf die es noch keine Antwort gibt, lauten dann: Wer geht wie mit dem Nachlass um? Gibt es digitale Begräbnisse? Wer kann es sich überhaupt leisten, einen digitalen Nachlass aufrecht zu erhalten, Stichwort: Verteilungsgerechtigkeit?

uni:view: Wie leben wir in der digitalen Zukunft?
Götzenbrucker:
Das Internet, das nichts vergisst, kann zum Problem werden. Und auch, dass Menschen vergessen, weil vermeintlich alles im Netz zu finden ist. Was aber ist tatsächlich und wird in Zukunft im Netz zu finden sein? Diese Entscheidung obliegt wahrscheinlich nicht dem demokratischen Bürgertum, sondern Megaweltkonzernen mit ökonomischen Interessen.

uni:view: Vielen Dank für das Gespräch. (hm)

Mehr über Gerit Götzenbrucker:
Gerit Götzenbrucker ist seit 2013 assoziierte Professorin am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Fakultät für Sozialwissenschaft. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Medieninnovationen und Technikfolgen, Kritische Technologie- und Medienanalyse, Soziale Netzwerkanalyse, Digital Game Studies sowie Berufs- und Qualifikationsforschung in Kommunikationsberufen.