"Völkerwanderung": Migration und das Ende des Römischen Reiches

Oft hört man heute von einer "neuen Völkerwanderung", die Europa "überschwemmt". In seinem Gastbeitrag zur Semesterfrage rückt der Historiker Walter Pohl dieses Bild zurecht und meint: Man kann auch aus ferner Vergangenheit lernen – wenn man sie richtig interpretiert.

Mit Begriffen wie " Völkerwanderung" und "Flüchtlingsströme" werden derzeit Schreckbilder aus einer Zeit vor 1.500 Jahren heraufbeschworen: wilde Barbaren, die das Römische Reich und die antike Kultur vernichten. Könnte uns dasselbe Schicksal treffen? Oder ist dieser historische Vergleich unzulässig?

Auch aus der entfernten Vergangenheit können wir lernen. Voraussetzung ist aber, dass wir sie wissenschaftlich korrekt interpretieren.

Die Verlockung, in der Geschichte kurzschlüssig Parallelen zu finden, ist groß. Doch die Geschichte ist nicht nur eine Geschichte großer Ereignisse. Sie ist auch die Geschichte der Wahrnehmungen und Bilder, die man sich von diesen Ereignissen macht. Die "Völkerwanderung", die im 4. bis 6. Jahrhundert n. Chr. die politische Geographie Europas nachhaltig veränderte, ist ein gutes Beispiel dafür. Unsere Quellen stammen vorwiegend von Römern, die für den Zerfall ihres Reiches vor allem die "Barbaren" verantwortlich machten. Danach deutete Generation um Generation diese dramatischen Ereignisse neu, verklärte oder verdammte die siegreichen germanischen Zuwanderer.

Das hat die Bilder von Migrationen und ihren Folgen bis heute geprägt. Erst jüngere Forschungen, nicht zuletzt an der Universität Wien, haben diese Vorstellungen zurechtgerückt.

Das Imperium Romanum: Erfolg durch Integration


Roms Erfolg lag nicht zuletzt daran, dass die Römer Fremde und Unterworfene zu integrieren wussten – anders als zuvor Athen oder Karthago. Spanier oder Syrer konnten Kaiser werden, freie Bewohner aller Provinzen das Bürgerrecht erhalten.

Rom duldete nicht nur Zuwanderung von jenseits der Grenzen, sondern förderte, ja erzwang sie: Millionen von Sklaven verrichteten die nötigen Arbeiten; halbfreie Bauern wurden gezielt angesiedelt; und begabte Fremde konnten Karriere machen. Vor allem war der römische Staat an Soldaten interessiert: zunehmend setzte Rom lieber das Leben kampfbereiter "Barbaren" aufs Spiel als das der eigenen Bürger.

Römische Soldaten im Kampf gegen Germanen. (Foto: Ludovisi-Sarkophag, 3. Jh. n.Chr; Rom, Museo Nazionale Romano/Wikipedia)

Immer schon wurden Hilfstruppen von jenseits der Grenze eingesetzt – der Drang der Nachbarn in die reiche Mittelmeerwelt und der Bedarf Roms an Arbeitskräften und Soldaten führten zu stetiger Zuwanderung. Seit dem 4. Jahrhundert war es römischen Bürgern erlaubt, sich von der Rekrutierung durch eine Ersatzsteuer freizukaufen. Bald bestand die glorreiche römische Armee vorwiegend aus "Barbaren" von jenseits der Grenzen, zunehmend unter ihren eigenen Anführern.


Migration von Berufskriegern und der Fall des Römischen Reiches


Viele Generationen von Zuwanderern hatten Rom gestärkt und keineswegs bedroht. Doch dass Rom die militärische Macht nun fremden Söldnern anvertraute, bedeutete ein politisches Risiko. Viele von ihnen haben dem Imperium treu gedient. Doch die steigenden Karrieremöglichkeiten für kampferprobte "Barbaren" lockten immer mehr Krieger an.

Jedes Semester stellt die Universität Wien ihren WissenschafterInnen eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. In Interviews und Gastbeiträgen liefern die ForscherInnen vielfältige Blickwinkel und Lösungsvorschläge aus ihrem jeweiligen Fachbereich. Zur Semesterfrage 2016

Das Angebot an billigen Söldnern verschärfte wiederum die Kämpfe um die Macht innerhalb des Imperiums, was eine verhängnisvolle Spirale in Gang setzte. Goten, Vandalen, Burgunder, Franken und andere kamen schließlich in geschlossenen Verbänden, die ihre militärischen Dienste dem Meistbietenden unter den Konkurrenten um den römischen Kaiserthron anboten und dabei langsam ihren politischen Spielraum erweiterten. Angriffe und Dienst an Rom wechselten einander ab. Die Westgoten wurden vertraglich in Gallien angesiedelt, die Vandalen eroberten die reiche Provinz Africa, die Franken breiteten sich als Bündnispartner Roms über Gallien aus. Das Ende des Weströmischen Reiches kam 476, als ein Kommandant der römischen Armee in Italien, der aus Pannonien stammende Odoaker, putschte und den letzten Kaiser des Westens absetzte.


Die Folgen der "Völkerwanderung"

Kein König der Goten, Vandalen oder Franken, auch nicht Odoaker, hat es gewagt, selbst den Kaisertitel anzunehmen – es gab ja noch den Kaiser des mächtigen oströmischen Reiches in Konstantinopel. Die Nachkommen der "barbarischen" Militärs, die nach Volkszugehörigkeit unterschieden wurden, bildeten nun die herrschende Schicht. Dadurch entstand in Westeuropa eine neue politische Ordnung mit einer Mehrzahl von Staaten, die zumeist ethnisch benannt wurden.

Das ist in den folgenden 1.500 Jahren so geblieben, auch wenn es längere Zeit dauerte, bis sich dieses neue Staatensystem konsolidierte. Kein Imperium konnte mehr dauerhaft die Vorherrschaft übernehmen, so wie es einst Rom gelungen war.  

Was können wir aus der Geschichte der Völkerwanderungszeit lernen? Die Einwanderungsgesellschaft trägt in vielfacher Weise zu Migrationen und ihren Folgen bei. Wie sie ablaufen, liegt vor allem an ihrer Entwicklung. Einfache Gegenüberstellungen – Rom und die Barbaren, Einheimische und Migranten – sind daher nicht geeignet, um Migration zu verstehen.

uni:view Was ist Ihre Antwort auf unsere Semesterfrage: "Wie verändert Migration Europa?"
Walter Pohl: Friedliche Zuwanderung schafft Chancen und Probleme. Es liegt weitgehend in unserer Hand, was wir daraus machen. Migration und Integration sollten kontrolliert ablaufen. Wir sollten mehr darüber wissen; Entscheidungen müssen nach offener, wissensbasierter Diskussion fallen. Die jüngere Geschichte zeigt: das größte Unheil bringen nicht "die Fremden" (Juden, Roma, Schwarze, Migranten), sondern diejenigen, die sie verfolgen. Fremdenhass führt letztlich zu Konflikt, Gewalt, Diktatur, Krieg, Spaltung und Verrohung der Gesellschaft. Das droht auch heute. In diesem Sinn: Migration sagt viel über uns selbst.


Zum Autor:
Walter Pohl ist Professor am Institut für Geschichte der Universität Wien und  Sprecher des FWF-Spezialforschungsbereichs "Visions of Community. 2004 wurde er mit dem Wittgenstein-Preis, 2012 mit einem Advanced Grant des Europäischen Forschungsrats ausgezeichnet. Er forscht u.a. zu ethnischen Prozessen und Identitäten zwischen Antike und Mittelalter, "Völkerwanderung" und anderen Migrationen sowie zur Geschichtsschreibung und ihrer Überlieferung.