Integration auf Lateinisch

Das liest man nicht nur in Geschichtsbüchern, sondern auch bei Asterix: Rom hat seinen Herrschaftsbereich mit Zwang und Unterdrückung ausgeweitet. Aber stimmt das auch? Rechtshistorikerin Loredana Cappelletti untersucht die Romanisierung des antiken Italiens und räumt mit einer Lehrmeinung auf.

Hunderte von Fotos haben Loredana Cappelletti und ihr Team in den letzten Jahren gemacht. Um Hunderte von Texten, Inschriften und bildlichen Quellen auf Steinen, bronzene Tafeln oder Urnen analysieren zu können. Ziel des Projekts am Institut für Römisches Recht und Antike Rechtsgeschichte der Universität Wien: endlich mit der gängigen Lehrmeinung aufräumen, dass – überspitzt gesagt – das antike Rom ein Jahrhundert vor Christi Geburt in seinen Hegemoniebestrebungen über die Zentren Mittelitaliens hinweggefegt ist. "Denn so war es nicht", sagt Loredana Cappelletti: "Rom hat sich durchaus tolerant gegenüber den vormals unabhängigen Kulturen gezeigt."

Imperium Romanum in neuem Blickwinkel

Die mehr als zwölf Völker Mittelitaliens waren, obgleich sie Alliierte von Rom waren und die lateinische Sprache gekannt haben, zum Zeitpunkt ihrer "Einbürgerung" ins Römische Reich autonom. "Sie hatten ihre eigenen Traditionen, Kulturen, Institutionen und Sprachen", so die Expertin für Römisches Recht und Antike Rechtsgeschichte. Und diese sind nicht auf einen Schlag verschwunden, sondern erst in einem langen Prozess.

Bis dato lag der Fokus der Forschungen zur Ausweitung des Römischen Reichs auf weiter entfernten Gebieten, die im Lauf der Zeit Teil des Imperium Romanum geworden sind, wie etwa Spanien, Frankreich, Griechenland, Kleinasien oder Nordafrika. "Sowohl die antiken als auch die modernen AutorInnen der Geschichtschreibung haben oft vergessen, dass die Romanisierung der italischen Halbinsel kein selbstverständlicher Prozess war, weil die betroffenen Gemeinden quasi Nachbarn von Rom waren", erklärt die italienische Wissenschafterin.

Nachdem Rom 90-88 v.Chr. das römische Bürgerrecht auf alle BewohnerInnen des antiken Italiens ausweitete, initiierte es die sogenannte Munizipalisierung bzw. Kolonisierung aller Völker der Halbinsel südlich des Po. Auch die etruskisch-, umbrisch- und oskischsprachigen Gemeinden Mittelitaliens wurden somit zu "municipia" und "coloniae civium Romanorum". (Foto: Dan Markeye)


Vorher-Nachher-Vergleich

Erstmals haben Cappelletti und ihr Team nun alle Quellen zur Institutionenwelt der verschiedenen etruskischen und italischen Gemeinden Mittelitaliens aus drei Jahrhunderten gesammelt und analysiert  und so den Prozess der Munizipalisierung bzw. Kolonisierung aller Völker der Halbinsel südlich des Po nachgezeichnet. Damit erweitern bzw. korrigieren sie die Verfassungs-, Lokal- und Regionalgeschichte Mittelitaliens zwischen dem ersten Jahrhundert vor und dem zweiten Jahrhundert nach Christus.

"Unsere zentrale Fragestellung dabei war: Was haben die Völker von ihren alten Strukturen behalten, als sie römische Bürger geworden sind, und vor allem: wie lange?", so Cappelletti. Keine leichte Angelegenheit, weisen doch die Quellen in manchen Bereichen Lücken auf: Die auf kostbarer Bronze verewigten Zeugnisse sind etwa häufig eingeschmolzen oder gestohlen worden. Und etliche andere Inschriften sind oft nur noch fragmentarisch vorhanden, da deren Teile im Lauf der Zeit wiederverwendet wurden.

Unter den Funden gibt es allerdings auch Glücksfälle, die den ForscherInnen z.B. erlauben, "dass wir zum Teil ganze Familien-Stammbäume rekonstruieren können und gleichzeitig wissen, welche Positionen oder institutionelle Funktionen die einzelnen Mitglieder in der damaligen Gesellschaft hatten. Oder wie viele Senatoren es pro Gemeinde gab, wie die Volksversammlungen funktionierten", freut sich Loredana Cappelletti.

Loredana Cappelletti und Team haben viel Zeit auf Ausgrabungsstätten verbracht, um neben literarischen v.a. epigraphische Quellen in Latein und Griechisch, aber auch Oskisch und Umbrisch zu sammeln. Die Inschriften oder bildlichen Darstellungen, etwa auf Steintafeln, Grenzsteinen oder Sarkophagen, lassen Rückschlüsse auf das administrative Leben der Völker in vorrömischer Zeit zu. (Foto: L. Cappelletti)

Tolerantes Rom: "Zweisprachige Ortstafeln"

Doch die Analyse der gesammelten Rechtsquellen lässt noch weitaus erstaunlichere Rückschlüsse zu: Rom hat entgegen der bisherigen Lehrmeinung nicht von heute auf morgen die alten einheimischen Gesetze und Rechtsgebräuche abgeschafft, sondern sowohl eine große Kompromissbereitschaft als auch Toleranz gegenüber den vormals autonomen Kulturen und deren Institutionen gezeigt.

Dass Integration ein schrittweiser Prozess "mit einer langen Übergangsphase" sein kann, lehrt uns also die Geschichte und ist an zahlreichen Beispielen der ehemaligen Weltmacht belegbar: So hatte Rom etwa nicht sofort verlangt, dass die Gemeinden ihre Sprachen aufgeben. Sichtbar wird dies unter anderem an der Verwendung von zweisprachigen Texten, auf denen neben den lateinischen Inschriften solche in griechischer Übersetzung vorliegen. Auch die einheimischen Institutionengefüge, wie etwa der seit Jahrhunderten existierende Etruskerbund, sind noch nach dem ersten Jahrhundert n. Chr. beweisbar – also rund zwei Jahrhunderte nach Beginn der Romanisierung.

Die Ergebnisse sollen einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden, zum einen durch Monographien, zum anderen durch die Open-Access-Datenbank ARCAIT. Sie versammelt in ihrem bibliographischen, dokumentarischen und Bildarchiv alles, was man über die Völker Mittelitaliens in vorrömischer und römischer Zeit wissen muss. "Vor allem Studierende können hier nicht nur sämtliche vorhandene Forschungsliteratur, sondern auch neue Themen für ihre Abschlussarbeiten finden. Damit nicht nur immer Caesar oder Cicero wissenschaftlich untersucht werden", schmunzelt Cappelletti.

"Damit habe ich meine Forschungsthese bestätigt: Es war für die Völker Mittelitaliens gar nicht nötig beziehungsweise sogar unmöglich, innerhalb kürzester Zeit die eigene Kultur, Sprache, Institutionen, Gebräuche und Identität aufzugeben. Das sieht man deutlich an der Wechselwirkung zwischen Rom und den verschiedenen Völkern: Letztlich ist es ja auch zur Weltmacht geworden, weil es schon von Anfang an die Etrusker mit ihren kulturellen Einflüssen gab", schließt Loredana Cappelletti zufrieden ihre Ausführungen. Hatten die alten Gallier also doch unrecht. Beim Teutates! (kb)

Das dreijährige FWF-Projekt "Mittelitalien in römischer Zeit" unter der Leitung von Univ.-Doz. Dr. Loredana Cappelletti vom Institut für Römisches Recht und Antike Rechtsgeschichte der Universität Wien wurde Ende Februar 2016 abgeschlossen. Es ist das zweite Forschungsprojekt innerhalb einer Projektreihe, das mit dem ebenfalls vom FWF geförderten "Magna Graecia in römischer Zeit" (1. Jänner 2010 bis 31. Jänner 2013) begonnen wurde und mit einer Studie zu "Sizilien in vorrömischer und römischer Zeit" abgeschlossen werden soll.