Migration und Bildung: "Alle müssen eine faire Chance erhalten"
| 10. Juni 2016Anlässlich der Semesterfrage "Wie verändert Migration Europa?" sprach uni:view mit der Bildungspsychologin Christiane Spiel über den Zusammenhang von Bildung und Migration, Bullying in multikulturellen Schulklassen, fehlende Förderung und das Problem von sogenannten "Ghetto-Klassen".
uni:view: Wann und wie sind Sie als Bildungspsychologin zum ersten Mal mit dem Thema Migration in Berührung gekommen?
Christiane Spiel: Ich habe mich schon vor 20 Jahren, noch als Professorin in Graz, mit den sozialen Beziehungen in multikulturellen Schulklassen beschäftigt. Das Hauptaugenmerk unserer damaligen Studien lag zunächst auf negativen sozialen Beziehungen, vor allem dem Phänomen des Bullying. Konkret haben wir im Vergleich zwischen SchülerInnen mit und ohne Migrationshintergrund analysiert, wie oft Bullying vorkommt und wer häufiger die "TäterInnen" bzw. die "Opfer" sind. Später haben wir uns dann auch positive soziale Beziehungen angeschaut, insbesondere Freundschaften. Als ich dann im Jahr 2000 an die Universität Wien gewechselt bin, haben wir diese Forschungen hier fortgeführt.
uni:view: Was haben Sie herausgefunden, sind Kinder mit MIgrationshintergrund öfter in Bullying-Aktivitäten involviert?
Spiel: Nein. Wir haben inzwischen sehr viele Studien mit unterschiedlichen methodischen Zugängen dazu durchgeführt. Über die gesamte Fülle an Studien hinweg betrachtet sind es eher die einheimischen Kinder, die häufiger zu Bullys und Victims werden.
uni:view: Seit 1995 hat sich in punkto Migration einiges getan. Worin liegt der größte Unterschied zwischen damals und heute?
Spiel: Die größte Veränderung betrifft die Herkunft der betroffenen Menschen. In unseren anfänglichen Studien in Graz haben wir MigrantInnen je nach Herkunftsland in unterschiedliche Gruppen eingeteilt. Die große Mehrheit kam damals entweder aus der Türkei oder den jugoslawischen Nachfolgestaaten. Heute haben wir eine viel größere Bandbreite an Herkunftsländern: Bei Studien unterscheiden wir zwischen MigrantInnen der ersten und zweiten Generation, zwischen MigrantInnen aus anderen EU-Ländern aus teils hochgebildeten Elternhäusern und MigrantInnen aus Gastarbeiterländern bzw. der aktuellen Flüchtlingsbewegung.
uni:view: Warum schneiden MigrantInnen im Vergleich zu einheimischen Kindern im Schulsystem schlechter ab – bzw. stimmt das überhaupt?
Spiel: In Österreich fällt dieser Unterschied sogar noch größer aus als in anderen europäischen Ländern. Wir haben hier wirklich – das muss man offen sagen – ein Problem, und zwar ein sehr komplexes. Wir müssen uns nämlich nicht nur den Migrationsstatus sondern auch den Bildungsstand anschauen: Wenn die Eltern GastarbeiterInnen sind, ist auch der Bildungsstand in der Familie niedriger und das Kind hat durch diese Kombination schlechtere Chancen, die Bildungsstandards zu erreichen. Wenn es dann noch in einer sogenannten "Ghetto-Klasse" voller Kinder aus ähnlichen Familien sitzt, sinken die Chancen noch einmal mehr.
uni:view: Wie könnte man dieses Problem lösen?
Spiel: Die Empfehlung geht in den letzten Jahren stark in die Richtung, einen sogenannten "Sozialindex" einzuführen. Das heißt, die Schulen bekommen ihr Geld nicht nach der Anzahl der SchülerInnen, sondern unter Berücksichtigung zentraler Variablen wie dem Bildungsstand und dem Migrationshintergrund der Eltern. Wenn es an einer Schule besonders viele Kinder von MigrantInnen mit schlechter Bildung gibt, bekommt sie auch mehr Geld und kann dann damit je nach Bedarf beispielsweise mehr Sprachförderung, psychologische Betreuung oder Unterstützung durch SozialarbeiterInnen anbieten. Auf diese Weise könnte man Benachteiligte mehr unterstützen. Alle müssen eine faire Chance erhalten, die Bildungsstandards zu erreichen.
Jedes Semester stellt die Universität Wien ihren WissenschafterInnen eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. In Interviews und Gastbeiträgen liefern die ForscherInnen vielfältige Blickwinkel und Lösungsvorschläge aus ihrem jeweiligen Fachbereich. Zur Semesterfrage 2016
uni:view: Inwiefern ist ein Migrationshintergrund für Kinder psychologisch gesehen eine besondere Herausforderung?
Spiel: Schule ist explizit der Ort, wo Akkulturation im Sinne positiver Anpassungsprozesse zwischen SchülerInnen mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund stattfinden kann und soll. Dies betrifft sowohl den Aufbau positiver sozialer interkultureller Beziehungen wie Freundschaften als auch konstruktives Umgehen mit kulturellen Konflikten. Die entsprechenden Akkulturationsmodelle gehen davon aus, dass Migration sowohl den MigrantInnen als auch den Einheimischen Anpassungsleistungen abverlangt. Somit ist Migration eine Herausforderung für alle Beteiligten.
uni:view: Sie sind von Anfang an Mitglied im 2014 neu geschaffenen Migrationsrat für Österreich. Was sind die Aufgaben und Ziele dieses Gremiums?
Spiel: Die Aufgabe des Gremiums ist es, sich aus unterschiedlichsten fachlichen Perspektiven heraus mit der Frage zu beschäftigen, wie Migration erfolgreich gelingen kann. Dazu muss man sich die aktuelle Situation in Österreich genau anschauen und überlegen, welche Schritte man setzen kann, damit dieser Prozess für beide Seiten positiv verläuft. Allerdings ist dieses Gremium vor der Flüchtlingskrise ins Leben gerufen worden. Diese Krise ist so dominant geworden, dass die ursprüngliche Aufgabenstellung momentan etwas in den Hintergrund gerückt ist.
uni:view: Was sind Ihre konkreten Aufgaben im Migrationsrat?
Spiel: Ich bin gemeinsam mit dem Genetiker Markus Hengstschläger für den Bereich Bildung und Forschung zuständig. Wir haben uns zuerst die gesamten Statistiken zum Thema angesehen, vom Kindergarten bis hinauf in den tertiären Bereich. Dann wurde eine Stakeholder-Befragung durchgeführt und schließlich habe ich noch Fokusgruppen mit MigrantInnen durchgeführt: mit SchülerInnen, StudentInnen und WissenschafterInnen. Unsere Analyseergebnisse sind dann in Empfehlungen eingeflossen, die wir gemeinsam mit unseren Stakeholdern diskutiert und in einem Bericht zusammengefasst haben, der direkt an das Innenministerium ging.
uni:view: Wurden Ihre Empfehlungen aus dem Bericht auch in praktische Maßnahmen umgesetzt?
Spiel: Die Berichte der einzelnen Arbeitsgruppen werden noch zusammengefasst. Was dann genau daraus wird, wird man sehen. Ich habe in der Vergangenheit schon öfter in verschiedenen Beratungsgremien – ob in der Zukunftskommission für das Bildungsministerium oder dem Entwicklungsrat für die PädagogInnenbildung – mitgewirkt und dabei gelernt, dass man nicht vorhersagen kann, was die Politik davon umsetzt. Und jetzt ist noch die Flüchtlingskrise dazugekommen und wir hatten einen Ministerwechsel.
uni:view: Wie beurteilen Sie die aktuelle Migrationsstrategie der Bundesregierung?
Spiel: Ich halte nichts davon, einfach die Grenzen dicht zu machen. Mit dieser Einstellung habe ich große Probleme. Es ist jedoch ganz offensichtlich, dass die Flüchtlingskrise eine enorme Herausforderung darstellt, die nicht von einem Land alleine bewältigt werden kann. Jedes Land versucht aber, mehr oder weniger egoistisch seine Interessen zu wahren. Die Europäische Union hat es nicht geschafft, eine klare, von allen Ländern akzeptierte Linie vorzugeben. Die Rolle, die die Türkei hier spielt, ist ebenfalls hoch problematisch.
uni:view: Kann die Wissenschaft die Politik bei der Flüchtlingsfrage unterstützen?
Spiel: Es funktioniert nur äußerst selten, dass man Forschungsergebnisse gleich direkt in die Praxis umsetzen kann. Dies trifft insbesondere auf jene Wissenschaftsdisziplinen zu, in denen es nicht um wirtschaftlichen Erfolg geht, wie die Sozial- und Geisteswissenschaften. Für den Transfer von wissenschaftlichen Erkenntnissen zur flächendeckenden Anwendung braucht man Partner und zumeist auch politische Unterstützung. Wer wäre jedoch ein solcher Partner, der den Transfer zum Thema Migration unterstützen würde? Wir selbst kooperieren zwar bei unseren Studien mit einzelnen Schulen. Österreich hat jedoch circa 6.000 Schulen.
uni:view: Ist das also einfach eine Kostenfrage?
Spiel: Natürlich ist das auch eine Kostenfrage. Es entstehen aber auch Kosten, wenn die Menschen in Frühpension gehen, wenn wir Tunnel in Berge graben oder wenn es Doppelgleisigkeiten bei der Verwaltung von Bund, Ländern und Gemeinden gibt. Wir müssen uns in Österreich fragen, welche Ziele wir anstreben und wo der höchste Return on Investment liegt. Und da würde ich doch meinen, dass einer Investition in Zukunftsthemen wie Bildung und Wissenschaft – dies inkludiert auch die Bildung von MigrantInnen und ihre Integration – eine sehr hohe Priorität eingeräumt gehört. Leider ist das in der Realität nicht entsprechend der Fall.
uni:view: Natürlich würde ich noch gerne Ihre Antwort auf unsere aktuelle Semesterfrage wissen. Wie verändert Migration Europa?
Spiel: Migration verändert nicht nur Europa, sondern letztlich die ganze Welt. Für uns bedeutet das, dass wir in unserem Alltag – wenn wir auf der Straße gehen, in die U-Bahn einsteigen oder uns mit anderen Menschen unterhalten – Europa direkt bei uns haben und mit anderen Nationalitäten und Kulturen direkt in Kontakt geraten. Einige empfinden diese Entwicklung nicht als wünschenswert. Aber man kann sich eben nicht aussuchen, in welchen Bereichen die Globalisierung das eigene Leben verändert und in welchen nicht. Sie betrifft alle Bereiche.
Die vielen Hilfsaktionen mit freiwilligen HelferInnen zeigen aber, dass es eine hohe Solidarität mit Flüchtlingen gibt. Jeder, der sich engagiert und mithilft, erlebt psychologisch gesehen einen doppelt positiven Effekt: Er sieht, dass er gebraucht wird und dass er mit seinem Einsatz tatsächlich etwas bewegen kann. Das stärkt das Selbstvertrauen. Wenn wir das systematisch implementieren könnten – z.B. in Schulen und anderen Bildungsinstitutionen – dass Menschen Verantwortung übernehmen, wäre das Konfliktpotenzial in Bezug auf Flüchtlinge und MigrantInnen sicherlich geringer.
uni:view: Danke für das Gespräch! (ms)
Univ.-Prof. Mag. DDr. Christiane Spiel ist Professorin für Bildungspsychologie und Evaluation und Vorständin des Instituts für Angewandte Psychologie: Arbeit, Bildung, Wirtschaft an der Fakultät für Psychologie. Sie hat die Bildungspsychologie als wissenschaftliche Disziplin begründet. Gemeinsam mit ihrem Team verfolgt sie als zentrale Forschungsthemen Lebenslanges Lernen, Gewaltprävention, Integration von MigrantInnen in multikulturelle Schulen und Geschlechtsstereotype in der Bildungssozialisation.
VERANSTALTUNGSTIPP: Podiumsdiskussion zur Semesterfrage
Am 20. Juni 2016 (18 Uhr, Großer Festsaal, Hauptgebäude) haben Sie die Gelegenheit, die Semesterfrage mit ExpertInnen aus Wissenschaft und Praxis live zu diskutieren. Am Podium: Migrationsrechtsexpertin Christine Langenfeld (Universität Göttingen) – sie hält das Impulsreferat zum Thema "Eine gute Migrationspolitik braucht mehr Europa!" – sowie von der Universität Wien Migrationsforscher und Vizerektor Heinz Faßmann, EU-Expertin Gerda Falkner, Osteuropa-Historiker Philipp Ther und Politikwissenschafterin Alev Cakir. Es moderiert Petra Stuiber (Der Standard).
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