"Schwächen sind Teil der Demokratie"
| 28. September 2017Im Rahmen der aktuellen Semesterfrage spricht uni:view mit Zeithistoriker Oliver Rathkolb über die Rolle der Medien und Wissenschaft in der Demokratie, die Frage, ob Demokratie heutzutage instabiler ist als früher und den "Luftblasensprech" von PolitikerInnen.
uni:view: Herr Rathkolb, was sagen Sie als Zeithistoriker zu der Aussage, in Österreich gebe es gar keine wirkliche Demokratie?
Oliver Rathkolb: Das ist absurd. Der internationale Vergleich diverser Demokratiebarometer zeigt, dass nach zwei Bürgerkriegen und einem brutalen totalitären Regime die Demokratie in Österreich sich seit 1945 langsam, aber stetig weiter entwickelt hat. Dass es Schwächen – zum Beispiel bei der Freiheit der Medien – gibt, ist meiner Meinung nach Teil der Demokratie. Demokratie ist nicht selbstverständlich; und auch nicht nur ein Ergebnis einer Verfassung oder von Wahlen. Es ist ein Entwicklungsprozess, der jede Generation neu fordert. Die aktuelle Herausforderung ist bekannt: Zunehmende Überwachung und Kontrolle als scheinbarer Schutz gegen Terror und digitale Manipulationen von Wahlen. Aber selbst in dieser Debatte zeigt sich, dass es viele Institutionen, NGOs und Einzelpersonen gibt, die sich hier engagieren.
uni:view: Ist für Sie die Demokratie denn die beste aller Staatsformen?
Rathkolb: Demokratie räumt die Möglichkeit ein, Fehlentwicklungen zu korrigieren und lässt öffentliche Debatten darüber zu. Sie ist eine politische Regierungs- und Gesellschaftsform, die ständig in Bewegung ist – das ist ihre Stärke. Hier zeigt sich aber leider auch die Schwäche der österreichischen Politikkommunikation. Es gibt das Parlament, Wahlen und politische Parteien, die man nicht mag, aber dennoch wählt – und das ist dann Demokratie. Aber das ist zu wenig. Die Bundespräsidentenwahlen samt Wahlanfechtung haben gezeigt, dass vor allem junge Menschen mit großem Interesse politische Aussagen und Entwicklungen in sozialen Medien kritisch diskutieren. Das empfinde ich als einen spannenden Prozess. Daher: Die Demokratie ist eine unvollkommene Staatsform, aber nach wie vor die beste.
uni:view: Hier drängt sich natürlich unsere Semesterfrage auf: Was ist Ihnen denn Demokratie wert?
Rathkolb: Mir ist Demokratie sehr viel wert. Ich bin entlang des Eisernen Vorhangs aufgewachsen, habe damals durch eigene Reisen den Kommunismus – so war ich wenige Wochen vor dem Einmarsch in die Tschechoslowakei 1968 in Prag – erlebt und auf Grund meiner Familiengeschichte und meiner wissenschaftlichen Ausbildung viel über den Nationalsozialismus erfahren. Ich denke, ich weiß, was ein totalitäres Regime ist (übrigens auch nach einer Reise 1986 in einer Delegation um den Altbundeskanzler Bruno Kreisky nach Nordkorea und als Protokollführer bei Gesprächen Kreiskys mit Kim Il-sung, dem Großvater des heutigen nordkoreanischen Diktators). Ich nahm im August gemeinsam mit Wolf Biermann an einer Diskussionsveranstaltung im Rahmen der Salzburger Festspiele teil. Dort hat er eine ganz einfache, aber letztlich präzise Formel angesprochen: Er sei stark gegen die Weltverbesserer, die ein komplett fertiges Programm anbieten, das keinen individuellen Spielraum zur Mitgestaltung mehr ermöglicht. Genau dieser Spielraum ist für mich eigentlich Demokratie. Die Möglichkeit, in dieser nicht vollendet perfekten Staatsform doch die Schraube in eine bessere Richtung zu drehen – und das in einem gemeinsamen permanenten und öffentlichen Prozess.
Jedes Semester stellt die Universität Wien ihren WissenschafterInnen eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. In Interviews und Gastbeiträgen liefern die ForscherInnen vielfältige Blickwinkel und Lösungsvorschläge aus ihrem jeweiligen Fachbereich. Die Semesterfrage im Wintersemester 2017/18 lautet "Was ist uns Demokratie wert?".
uni:view: Laut einer Studie, die Sie im April dieses Jahres veröffentlicht haben, sprechen sich 43 Prozent der ÖsterreicherInnen für einen "starken Mann" an der Spitze des Landes aus, 23 Prozent sogar für einen "starken Führer". Die Ergebnisse wurden medial breit diskutiert; in Interviews appellieren Sie u.a. an die Medien selbst, ihrer Verantwortung nachzukommen. Bislang hat sich die Berichterstattung aber nicht geändert, oder?
Rathkolb: Nein. Das ist eine Entwicklung, die eine langfristige Bildungsinitiative erfordert. Und natürlich merkt man deutlich, dass sich der Boulevard, aber auch Teile der sozialen Medien hier völlig ausklinken. Mich hat etwa die Debatte im Februar dieses Jahres über die Umbenennung des Heldenplatzes – etwa in "Platz der Republik" oder "Platz der Demokratie" – irritiert. Nach wie vor hat Demokratie in Österreich kaum symbolischen und emotionalen Wert. Die Reaktionen waren mitunter extrem aggressiv, vor allem der Boulevard hat da voll reingefeuert. Medien haben eine große Verantwortung und nehmen diese auch teilweise wahr, aber wir müssen uns bewusst sein, dass infolge der Digitalisierung und digitalen Revolution so viele Medienwelten entstanden sind, dass es gerade für die Wissenschaft sehr schwierig ist, mit rationalen und manchmal auch unbequemen Botschaften durchzukommen. Zuletzt haben wir bei den Präsidentenwahlen in den USA gesehen, wie leicht eigentlich soziale Medien durch externe Manipulationen zu Wahlkampfpropagandarobotern umgepolt werden können, wo es keinen rationalen Austausch von politischen Inhalten und Strategien mehr gibt. Was zählt ist die politische Manipulation von big data durch social bots und sock puppets. D.h. wir müssten eigentlich jetzt digitale Lesekompetenz unterrichten.
uni:view: Müssen sich Universitäten und WissenschafterInnen also neue Kommunikationswege überlegen, um "die breite Masse" zu erreichen?
Rathkolb: So ist es. Aber es liegt noch ein langer Weg vor uns. Wir haben zwar den Elfenbeinturm erfolgreich verlassen, sind offen geworden und kommunizieren viel, aber primär im traditionellen Bereich. In diese breite, vielschichtige Medienlandschaft kommen wir selten hinein. Es gibt, und da gehöre ich selbst nicht dazu, nur wenige KollegInnen, die etwa auf Twitter aktiv sind. Es stellt sich die Frage, ob wir nicht stärker die technologischen Möglichkeit nutzen sollten, um eine Gegenöffentlichkeit in die Welt zu setzen, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basiert, und eine positive und aufgeklärte kritische Gegenöffentlichkeit mitentwickelt, die der Rückkehr aggressiv nationalistischer, frauenfeindlicher und antisemitischer sowie rassistischer Vorurteile entgegenwirkt, und sich nicht nur auf die Analyse dieser Fehlentwicklungen beschränkt. Vielleicht schaffen wir gemeinsam doch noch so etwas wie ein Zeitalter der digitalen Aufklärung 4.0!
Oliver Rathkolb organisiert im WS 2017/18 die Ringvorlesung "Beiträge der Universität zum Abbau von Vorurteilen in unserer Gesellschaft: Welch triste Epoche, in der es leichter ist, ein Atom zu zertrümmern als ein Vorurteil!". In dieser werden WissenschafterInnen der Universität Wien und einige Gäste Ihre Expertise zum Abbau von Vorurteilen anhand neuester internationaler Forschungen präsentieren. Wichtig dabei ist nicht primär das Festmachen von Vorurteilen, sondern die Entwicklung konkreter Strategien zu deren Abbau. Die Ringvorlesung richtet sich an Studierende aller Studienrichtungen. Mehr Informationen
uni:view: Steht die Demokratie heute auf wackligeren Beinen als vor einigen Jahrzehnten?
Rathkolb: Nein, das ist eine Illusion. Ein konkretes Beispiel: Auf dem Höhepunkt der Ära Kreisky hat sich Ende der 1970er Jahre die Mehrheit der österreichischen Gesellschaft für die Einführung der Todesstrafe bei Kapitalverbrechen ausgesprochen. Heute echauffieren wir uns, dass es möglicherweise in der Türkei passiert, aber damals war es auch hier Mainstream-Denken. Früher waren bestimmte berufliche Laufbahnen sicherer, der Sozialstaat und die Pensionen standen nicht zur Diskussion, aber es wird vergessen, in welchem autoritären Rahmen sich das alles in den 70er und 80er Jahren entwickelte. Stattdessen wird die jüngere Vergangenheit glorifiziert. Heute leben wir in einer Zeit, in der kein Stein mehr auf dem anderen bleibt, und sich unsere sozialen, ökonomischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen rasant verändern. Daraus resultiert ein Gefühl der Unsicherheit. Daher holen wir uns eine scheinbare Sicherheit in der Vergangenheit, aber das ist die falsche Projektion.
uni:view: Wie können PolitikerInnen den Menschen die oftmals komplexen Sachverhalte besser näherbringen und eventuelle Unsicherheiten nehmen?
Rathkolb: Es ist wichtig, die zentralen politischen Inhalte mit einfachen Formulierungen stets zu wiederholen und in Diskussion zu stellen. Mir scheint, PolitikerInnen haben Angst, einen komplexen Prozess bewusst zu so zu vereinfachen und zu erklären, dass er trotzdem noch eine konkrete politische Veränderung nach sich zieht. Heute geht es meist darum, wer die meisten Klicks auf Facebook, die meisten Follower und die besten Fotos auf Instagram hat. Ich glaube trotzdem, dass es einen großen Bedarf in der Öffentlichkeit nach mehr Information, mehr Interpretation und mehr Erklärung gibt. Auch mit dem Manko, dass es dann starke Vereinfachungen sind. QuereinsteigerInnen kommen in der Politik häufig gut an, weil sie diesen "Luftblasensprech" nicht haben.
uni:view: Vielen Dank für das Gespräch! (mw)
Zur Person:
Oliver Rathkolb ist Professor am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien und Vorsitzender des internationalen Beirats zur Etablierung eines Hauses der Geschichte Österreich. Er forscht u.a. zur Europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert, Österreichischen und internationalen Zeit- und Gegenwartsgeschichte im Bereich der politischen Geschichte und österreichischen Republikgeschichte im europäischen Kontext.