Demokratie auf Kosten der Umwelt

"Seit der Entwicklung des Industriekapitalismus haben sich in manchen Ländern politische und materielle Teilhabe nicht zuletzt auf Kosten der Umwelt entwickelt". In seinem Gastbeitrag zur aktuellen Semesterfrage spricht Politologe Ulrich Brand einen weiteren Aspekt von Demokratie an.

Der US-amerikanische Kulturwissenschafter Timothy Mitchell spricht von einer Kohlenstoff-Demokratie (Carbon Democracy) und entwickelt ein spannendes historisches Argument. Seit dem 19. Jahrhundert wuchs insbesondere die Macht der Berg- und TransportarbeiterInnen, die die Kohle aus großen, zentralisierten Lagerstätten förderten bzw. von dort weiterverteilten. Die Fähigkeit der ArbeiterInnen, die Versorgung der Gesellschaft mit dem wichtigen Rohstoff Kohle per angedrohter oder realer Streiks zu unterbrechen, verlieh ihren sozialen und politischen Forderungen Nachdruck.

Traditionell waren die Gewerkschaften in diesen Branchen besonders kampfstark und Vorreiter einer Demokratisierung im Sinne politischer, aber eben auch materieller Teilhabe. Österreich ist dafür ein gutes Beispiel. Das änderte sich mit dem Übergang zur Dominanz des Öls: Die internationale Förderung, Pipelines und große Tanker schwächten die ArbeiterInnen.

Zeitalter der "simulativen Demokratie"

Und dennoch gilt der Grundgedanke von Mitchell bis heute: Die enorme Zunahme von materiellem Wohlstand im Industriekapitalismus auch von breiten Bevölkerungsschichten, der auf einer enormen Ausbeutung natürlicher Ressourcen basiert, sind Grundelement der sozialen Demokratie und stiften bis heute sozialen Konsens. Doch die enormen Probleme sind eben auch immer sichtbarer.

Das führt den Soziologen Ingolfur Blühdorn von der Wirtschaftsuniversität Wien zu der These, dass wir im Zeitalter einer "simulativen Demokratie" leben. Es werden zwar in Politik und Gesellschaft vielfach Warnungen in Bezug auf ökologische Probleme ausgesprochen, man kann durchaus von wachsendem Umweltbewusstsein sprechen und die Politik versucht etwa mit den im September 2015 von der UN-Generalversammlung verabschiedeten "Zielen für nachhaltige Entwicklung" (Sustainable Development Goals) zu reagieren.

"Im Verlauf der letzten Monate haben die unterschiedlichen Beiträge zur Semesterfrage gezeigt, wie facettenreich und ambivalent das Verständnis von Demokratie ist – und die damit benannten gesellschaftlichen Realitäten. In der aktuellen Nachhaltigkeitsdebatte wird auf einen weiteren Aspekt hingewiesen", so Ulrich Brand zur aktuellen Semesterfrage. Zur Semesterfrage

Selbstverwirklichung auf Kosten der Umwelt

Die Regierungen wissen zu gut, dass bis Mitte des Jahrhunderts Ressourcenverbrauch und Emissionen massiv reduziert werden müssen, um den zunehmenden Konflikten um eben jene Ressourcen und dem Klimawandel zu begegnen.

Doch im Grunde wissen sowohl die politischen RepräsentantInnen wie auch WählerInnen, dass sie mehrheitlich die Verhältnisse nicht grundlegend verändern wollen. Demokratie wird simuliert. Für Blühdorn liegt ein Hauptproblem darin, dass die Ansprüche auf Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung in unseren Gesellschaften immer maßloser werden (wie zum Beispiel die Selbstverständlichkeit des Fliegens) – und auf die Folgen für die Umwelt und die Produzenten von Kleidung, Nahrungsmitteln oder High-Tech-Geräten in anderen Weltregionen keine Rücksicht genommen wird.

Ausbeutung der Natur und des globalen Südens


Ich finde das Argument von Blühdorn überzogen, weil er übersieht, dass es insbesondere von sozialen Bewegungen und NGOs, aber auch in Teilen der Politik und des Unternehmenssektors durchaus ernsthafte Anstrengungen gibt, einen sozial-ökologischen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft voranzutreiben.

Und: Es werden durch die "Carbon Democracy" nicht alle gleich. Wir leben weiterhin in Klassengesellschaften mit ungleich verteiltem Vermögen und Lebenschancen. Auch entlang von Geschlechterlinien stellen sich ungleiche Möglichkeiten der Gestaltung des eigenen Lebens her. Es finden auch weiterhin Konflikte darum statt, wie Umwelt-Ungerechtigkeit angegangen werden kann: Etwa beim Ausbau von Flughäfen, der Frage, wo die vielbefahrenen Straßen gebaut werden oder warum für die westlichen KonsumentInnen der Regenwald abgeholzt werden soll.

Vor allem aber basiert die in den letzten Jahrzehnten stark zugenommene und demokratisch abgesicherte materielle Teilhabe auf der Ausbeutung der Natur und des globalen Südens.

Westen unterdrückt Demokratiebewegungen


Der erwähnte Timothy Mitchell zeigte, dass das Erdölzeitalter auch dadurch ermöglicht wurde und bis heute wird, indem etwa die Regierungen und Unternehmen des globalen Nordens mit konservativen islamischen Bewegungen und Regierungen des globalen Südens kooperieren – und Letztere die Demokratiebewegungen in den Erdölländern systematisch unterdrücken. Dasselbe gilt heute für Russland und ähnlich sieht es heute in China aus. Zwar wird die Verletzung der Menschenrechte angeprangert, aber zu teuer sollen Handy und Laptop durch eine Anerkennung der Rechte der ArbeiterInnen und die entsprechende Anhebung von Sozial- und Umweltstandards auch nicht werden.

"Imperiale Lebensweise" und undemokratische Ressourcenverteilung

Dieser globale Zusammenhang ist tief in unseren Alltag eingelassen. Das wollen Markus Wissen und ich mit dem Begriff der "imperialen Lebensweise" aufzeigen: Unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem basiert sehr stark darauf, dass hierzulande Produkte konsumiert werden (oder Vorprodukte wie Futtermittel für die Tierzucht), die unter ausbeuterischen sozialen und ökologischen Bedingungen andernorts produziert wurden.

Im März 2017 veröffentlichte Ulrich Brand gemeinsam mit Markus Wissen das Buch "Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus" (oekom-Verlag München). Im März 2018 erscheint, ebenfalls mit Markus Wissen, das Buch "The Limits to Capitalist Nature. Theorizing and Overcoming the Imperial Mode of Living" (Rowman & Littlefield International, London/New York). In beiden Büchern werden die hier angesprochenen Themen ausgeführt. Zum Buchtipp in uni:view

Der Zugriff auf die globalen Ressourcen ist im globalen Maßstab zutiefst undemokratisch. Notfalls wird die globale Ressourcenordnung autoritär bis hin zu Kriegen abgesichert. Denn wirkliche Demokratie würde ja bedeuten, dass grundsätzlich alle Menschen den gleichen Anspruch auf die Nutzung natürlicher Ressourcen und das Recht auf Emissionen haben. Das ist nicht der Fall und die imperiale Lebensweise wird von der liberal-westlichen Demokratie abgesichert.

Globale Gerechtigkeit in Sachen Naturverbrauch und damit Lebenschancen zu schaffen, würde bedeuten, das global ausbeuterische Wirtschaftssystem umzubauen. Insbesondere geht es um einen konsequenten Umstieg auf dezentral produzierte erneuerbare Energien und eine Abkehr von den fossilen Energieträgern, die nicht nur klimapolitisch katastrophal sind, sondern auch autoritäre Regime stützen. Das würde auch viele internationale Konflikte vermeiden, die eben Konflikte um Land und natürliche Ressourcen sind.

Weg von der nationalen zu internationalen Demokratie


Schließlich: Die globale Gerechtigkeits- und Umweltproblematik zu berücksichtigen, bringt uns zu einem Thema, das in der Debatte um Demokratie kaum eine Rolle spielt, weil diese sehr eng an den Nationalstaat gekoppelt ist. Was sind in Zeiten der Globalisierung des Kapitalismus und der Tatsache, dass viele Probleme wie übermäßige Ressourcennutzung und Klimawandel hierzulande verursacht werden, aber woanders ihre negativen Wirkungen entfalten, eigentlich Möglichkeiten einer internationalen Demokratie?

Die Antwort von vielen darauf ist: Die Staatengemeinschaft, also die UNO. Doch das scheint angesichts der dargestellten Herausforderungen nicht mehr zu reichen. Die bestehende Demokratie dient heute vielfach der – notfalls brutalen, aber im globalen Norden demokratisch legitimierten – Absicherung der imperialen Lebensweise. Demokratie muss also ganz anders gedacht und gemacht werden.

Ulrich Brand ist seit September 2007 Professor für Internationale Politik am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u.a. kritische Analysen der Globalisierung und ihrer politischen Regulierung, Ökologische Krise, Global Environmental Governance und sozial-ökologische Transformation mit den Schwerpunkten Ressourcen-, Energie- und Klimapolitik. (Foto: Lisa Bolyos/Augustin)