"Soziale Ungleichheit muss reduziert werden"

Flavia Fossati

MigrantInnen sind am Arbeitsmarkt mit Benachteiligungen konfrontiert. Im Interview zur Semesterfrage "Wie werden wir morgen arbeiten?" spricht Politikwissenschafterin Flavia Fossati über Diskriminierung, aktive Arbeitsmarktpolitik und das Sparen am Sozialstaat.

uni:view: Frau Fossati, Sie forschen schon lange zur Arbeitsmarktintegration von MigrantInnen, Diskriminierung und den Effekten von Sozialpolitik. Wohin geht die derzeitige Entwicklung?
Flavia Fossati: Wir leben in einer Ära der Austerität – der Sparpolitik, die oftmals zu Lasten sozial Schwächerer geht. Überall in Europa, aber speziell in Österreich, wird in der öffentlichen Debatte und der Sozialpolitik vermehrt danach unterschieden, wer soziale Leistungen "verdient" und wer sie nicht oder weniger erhalten soll. Die "Unterstützungswürdigkeit" älterer Menschen wird weniger in Frage gestellt – aber bei Arbeitslosen oder Menschen mit Migrationshintergrund sieht das anders aus. Hier wirkt das Stereotyp, dass sie selbst Verantwortung für ihre Lage tragen.

uni:view: In der öffentlichen Debatte und der Politik wird oft ein Unterschied zwischen AsylwerberInnen und sogenannten "Wirtschaftsflüchtlingen" gemacht. Was ist der Hintergrund?
Fossati: Hier wirkt dasselbe Prinzip. Gruppen von Menschen werden danach unterschieden, wer zur Gesellschaft beiträgt und wer nicht. Wer hat einen "legitimen" Grund, hier zu sein – etwa Krieg oder Verfolgung –, und wer möchte sich "nur" ein besseres Leben aufbauen. Manche ArbeitgeberInnen übernehmen diese Konstruktion und dies hat einen Einfluss darauf, wem sie einen Arbeitsplatz anbieten. Die Folge ist eine Verstärkung der Ungleichheiten, die jene Gruppen besonders betreffen, die bereits schlechter gestellt und besonders verwundbar sind.

uni:view: Stellen ArbeitgeberInnen lieber Geflüchtete als andere MigrantInnen ein?
Fossati: Das lässt sich nicht pauschal beantworten. Einerseits gilt Flucht eher als "legitimer" Migrationsgrund, andererseits vermeiden ArbeitgeberInnen bürokratische Unsicherheiten – eine stabile Aufenthaltsbewilligung ist also oftmals Voraussetzung. Um ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu steigern ist oft wesentlich, dass die BewerberInnen die Landessprache sprechen und dass sie gefragte Kompetenzen sie mitbringen.

uni:view: Warum konzentrieren Sie sich in ihrer Forschung häufig auf ArbeitgeberInnen?
Fossati: ArbeitgeberInnen sind "Gatekeeper" am Arbeitsmarkt: Sie entscheiden, ob sie Geflüchtete oder andere MigrantInnen beschäftigen oder nicht. Entsprechend lag dieser Fokus speziell für meine Kollegin Fabienne Liechti von der Universität Lausanne und mich in unseren Forschungen zur aktiven Arbeitsmarktpolitik nahe. Wenn BewerberInnen eine AMS-Maßnahme absolviert haben, müssen Personalverantwortliche von deren Nutzen überzeugt sein. Bei Geflüchteten gibt es da keine Probleme: ArbeitgeberInnen können nachvollziehen, dass sie Lücken im Lebenslauf haben können, dass sie einen Integrationskurs besucht oder an einer Beschäftigungsmaßnahme teilgenommen haben.


Aber wenn jemand hierzulande aufgewachsen ist, kann es sogar stigmatisierend wirken, wenn ein AMS-Kurs im Lebenslauf aufscheint. Dies ist politisch hoch relevant, denn seit 30 Jahren wird überall in Europa massiv in die aktive Arbeitsmarktpolitik investiert. Dabei geht es um viel Geld. Es ist wichtig, Klarheit darüber zu erlangen, wie eine Politik wirkt. Abgesehen von politischen Maßnahmen sind aber oft auch Stereotype am Werk: Jene ArbeitgeberInnen stellen Geflüchtete ein, die ihnen ohnedies positiv gesinnt sind – andere sperren sich dagegen, MigrantInnen zu beschäftigen. Die Politik müsste also auch Ressentiments entgegensteuern.

uni:view: Sie haben einen ihrer Artikel "The absent rewards of assimilation" genannt. Welchen Handlungsspielraum haben MigrantInnen, um selbst ihre Lage am Arbeitsmarkt zu verbessern?
Fossati: Die Möglichkeiten von MigrantInnen sind stark eingeschränkt. Unsere Untersuchungen zeigen: Wer einen Migrationshintergrund hat, bekommt seltener ein Vorstellungsgespräch, geschweige denn einen Job. MigrantInnen tun sehr viel, um ihre Chancen zu erhöhen und es hilft ihnen, wenn sie sich die deutsche Sprache aneignen und proaktiv sind. Aber den Nachteil, den sie schon wegen ihrer Nationalität oder ihres Namens erfahren, können sie fast nicht wettmachen.

uni:view: Dabei bringen MigrantInnen Kompetenzen mit, die Menschen ohne (offensichtlichen) Migrationshintergrund nicht haben – beispielsweise die Sprachen, die sie sprechen.
Fossati: Das stimmt, aber während gute Deutschkenntnisse eine Voraussetzung für viele Jobs sind, gilt das nicht unbedingt für die Sprachen, mit denen sie vielleicht aufgewachsen sind. Wenn ein Bewerber einen arabisch-klingenden Namen hat, aber österreichisches Deutsch spricht, bewerten ArbeitgeberInnen den Lebenslauf besser als wenn dort steht, dass er zusätzlich z.B. türkisch spricht.
Ähnlich sieht es bei ehrenamtlicher Arbeit aus, die sonst ja von Engagement zeugt. Sind MigrantInnen in einer Organisation wie dem Roten Kreuz aktiv, die als zugehörig zu Österreich erlebt wird, können sie den Abstand zu ihren österreichischen MitbewerberInnen verringern. Das Gegenteil ist der Fall, wenn sie im Vorstand eines türkischen Kulturvereines sind. Dies ist in den Augen vieler ArbeitgeberInnen eher ein Manko. Viele MigrantInnen verschweigen diese Aktivitäten, damit ihr CV als "weißer" wahrgenommen wird.

uni:view: Sie versuchen, möglichst "weiß" bzw. "österreichisch" zu erscheinen, um weniger benachteiligt zu werden?
Fossati: Genau. Der Begriff "CV Whitening" kommt aus den USA und bezog sich ursprünglich auf African Americans. Wenn MigrantInnen beim Lebenslaufschreiben etwas von ihrer Identität weglassen, kann ihnen das helfen, den Unterschied zwischen sich und den österreichischen MitbewerberInnen zu verkleinern. Aber es hat negative Auswirkungen auf die Menschen, wenn sie ihre Individualität abstreiten müssen, damit sie auf dem Arbeitsmarkt eine Chance haben. Das sind ethische Fragen, auf die auch die Sozialpolitik Antworten finden muss.

uni:view: Was erwarten Sie von der Politik?
Fossati: Grundsätzlich wären Sozialstaat und Arbeitsmarktpolitik konsequent auf die Bedürfnisse von jenen auszurichten, die in dieser Gesellschaft benachteiligt werden – seien dies nun Menschen mit Migrationshintergrund, Alleinerziehende oder Arbeitslose. SozialpolitikerInnen sollten es sich zum höchsten Ziel machen, die Benachteiligungen der Schwächsten in der Bevölkerung zu kompensieren. Das würde auch Ressentiments reduzieren: Angst um den Job, ein Mangel an sozialer Sicherheit oder das Gefühl von Konkurrenz befördern Vorurteile. Wenn soziale Mobilität erleichtert und soziale Ausgrenzung und Ungleichheit reduziert werden, sind die persönlichen wie die gesellschaftlichen Kosten am geringsten.

uni:view: Wie werden wir morgen arbeiten?
Fossati: Die Arbeit wandelt sich, bestimmte Arbeiten werden zunehmend von Robotern übernommen. Angesichts dessen stellt sich die Frage, welche ArbeitnehmerInnen unter welchen Bedingungen weiterbeschäftigt werden oder wer Umschulungsmaßnahmen erhalten wird. Der Verdacht liegt nahe, dass jene Bevölkerungsschichten, die bereits jetzt am Arbeitsmarkt schlechter gestellt sind, am stärksten unter diesen Veränderungen leiden werden. Dies zeigt sich schon heute bei den neuen prekären Dienstleistungsjobs von Zustelldiensten bis zur Personenbeförderung. Es ist zu befürchten, dass sich bestehende Ungleichheiten verschärfen und dass die Beschäftigungsmöglichkeiten gerade für Benachteiligte sinken. (jr)

Flavia Fossati forscht am Institut für Politikwissenschaft der Fakultät für Sozialwissenschaften u.a. zu Diskriminierung, Sozial-, Arbeitsmarkt-, und Migrationspolitik. Bevor sie im September 2018 an die Universität Wien wechselte, war sie als Postdoc-Mitarbeiterin u.a. an an der Graduate School for Public Administration der Universität Lausanne und am National Center of Competence in Research der Université de Neuchâtel beteiligt.