"Hochgradig kontrolliert, entgrenzt, prekär"

Porträtfoto von Gabriele Michalitsch vor rotem Hintergrund mit grafischen Elementen

"Wie werden wir morgen arbeiten?" lautet die aktuelle Semesterfrage. uni:view sprach mit Politologin und Ökonomin Gabriele Michalitsch über die Bedeutung der Regulierung von Arbeit, soziale Sicherung und Neoliberalismus als Generator geschlechtlicher Hierarchien und autoritärer Entwicklungen.

uni:view: Frau Michalitsch, Ökonomie und Feminismus – wie gehört das zusammen?
Gabriele Michalitsch: Ökonomie ist eine Artikulationsform von Macht- und Herrschaftsverhältnissen, also auch von Geschlechterverhältnissen. Kapitalismus und Patriarchat sind ineinander verwoben. Daher ist die Ökonomie, zumal sie Lebensverhältnisse unmittelbar bestimmt, ein wesentliches Feld feministischer Kritik. Die Verteilung von Kapital, Vermögen und Einkommen oder die ökonomische Rationalität, der herrschende Arbeitsbegriff ebenso wie das dominante Ökonomie-Verständnis, das sind zentrale Topoi im feministisch-ökonomischen Diskurs.

Die Frage, was in unserer Gesellschaft als Arbeit gilt und wem welche bezahlte und unbezahlte Arbeit zugewiesen wird, ist sicher eine der am häufigsten gestellten. Oder die Frage nach den Folgen von Arbeitsmarktderegulierung und Sozialabbau, von Prekarisierung und Informalisierung von Beschäftigung. Diese Entwicklungen treffen in besonderem Maße Frauen. Sie können durch Erwerbsarbeit häufig nicht ihre Existenz sichern, haben als Prekarisierte vielfach nur eingeschränkten Zugang zum Sozialsystem, bei informeller Beschäftigung verlieren sie jeglichen arbeits- oder sozialrechtlichen Schutz. Gleichzeitig führen flexible Arbeitszeiten oft zu großen Vereinbarkeitsproblemen: Mein Kind kann ich nicht um 21 Uhr abends vom Kindergarten abholen.

Jedes Semester stellt die Universität Wien ihren WissenschafterInnen eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. Die Semesterfrage im Sommersemester 2019 lautet "Wie werden wir morgen arbeiten?". (© Universität Wien)

uni:view: Sie haben kürzlich als Expertin vor dem Gleichbehandlungsausschuss des Nationalrats im Rahmen der Behandlung des Frauenvolksbegehrens gesprochen. Worum ging es da?
Michalitsch: Bei diesem Hearing wurden vor allem politökonomische Fragen thematisiert. Ich war zur Frage "Macht teilen" eingeladen und habe versucht kurz darzustellen, was Patriachat bedeutet und dass Quoten alleine nicht ausreichen, wenn Macht tatsächlich geteilt werden soll. Allerdings beträgt die Redezeit gerade einmal vier Minuten, es gibt keinen Raum für Diskussion, lediglich eine kurze Replik zu den Statements der Abgeordneten ist möglich.

uni:view: Wie wurde Ihre Expertise von dem Ausschuss angenommen?

Michalitsch: Für mich war es ernüchternd zu sehen, dass auch in diesen Debatten der Stand der Wissenschaft in hohem Maße ignoriert wird. Vieles wird auf persönliche Wahrnehmung oder unreflektierte Empfindung reduziert. Man merkt, dass die Zeichen auch im Nationalrat nicht auf Emanzipation stehen.

uni:view: In einem Interview kritisieren Sie Neoliberalismus als vergeschlechtlichte Praxis bzw. vergeschlechtlichtes Konzept. Was sind Ihre Kritikpunkte?
Michalitsch: Neoliberale Arbeitspolitik bedeutet beispielsweise Deregulierung der Arbeitsverhältnisse. Damit geht die schon angesprochene geschlechtliche – und auch rassistische – Spaltung der Arbeitskräfte und die Schwächung der Gewerkschaften einher. Zudem hat Neoliberalismus Arbeitslosigkeit privatisiert. Mit der neoliberalen Propagierung von Selbstverantwortung in allen Lebensbereichen wurde auch Arbeitslosigkeit als privates Problem redefiniert. Nach dem Motto: Wer arbeitslos ist, ist selbst schuld. Alles wird zur Frage individueller Wettbewerbsfähigkeit. Diskriminierung gibt es im neoliberalen Modell von universellem Markt und Wettbewerb nicht – und auch keine unbezahlte Versorgungsarbeit. Wettbewerb aber ist nichts anderes als eine zivilisierte Form des Kampfes, der tief mit dem dominanten Männlichkeitsentwurf verbunden ist.

Andererseits wird durch den Abbau öffentlicher Dienstleistungen eine Menge unbezahlter Arbeit im Privaten erzeugt. Wenn Spitäler Kosten sparen, indem sie PatientInnen möglichst früh entlassen, dann heißt das ja nicht, dass sie früher gesunden, sondern dass sie zu Hause betreut werden müssen – in der Regel unbezahlt von Frauen.

uni:view: Heutzutage wird Erwerbsarbeit ja häufig als eine Möglichkeit der Selbstverwirklichung verkauft. Was sagen Sie als Ökonomin dazu?
Michalitsch: Die Propagierung von Arbeit als zentralen Referenzpunkt der Selbstdefinition, Stichwort unternehmerisches Selbst, bedeutet letztlich Unterordnung des gesamten Lebens unter die Erwerbsarbeit. Nicht der Lohn ist der Lohn der Arbeit, sondern die Arbeit ist der Lohn der Arbeit. Selbstverwirklichung setzt Entscheidungsfreiheit voraus, doch die ist nur sehr selten gegeben. Die Befreiung vom Joch der Arbeit war stets ein Traum der Menschheit. Doch statt uns zu befreien, werden wir immer erschöpfter – trotz Automatisierung und Digitalisierung.

Der letzte AK-Arbeitsklima-Index (Anm.: siehe Website) zeigt, dass ein Viertel der Beschäftigten in Österreich regelmäßig in der Freizeit für den Job arbeitet, viele auch im Urlaub, ein Viertel sogar im Krankenstand. Mehr als die Hälfte der Befragten klagt über massiven Zeitdruck und sehr viele, dass gar keine Zeit für Erholung bleibt. Wie lange hält man das durch? Depressionen, Burn-out, der Konsum von Schlaf- und Schmerzmitteln steigen kontinuierlich. Das ist nicht nur individuell untragbar, sondern hat natürlich weitreichende destruktive Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft. Auch die Erwerbslosen stehen übrigens unter enormem Druck. Da mischen sich Scham, Vorwürfe individuellen Ungenügens und ökonomischer Druck durch nicht-existenzsichernde Transfers, deren Bezug geradezu kriminalisiert wird. Von Selbstverwirklichung kann unter solchen Bedingungen wohl kaum die Rede sein, viel eher von Zwang, Unsicherheit und Angst. Ich sehe hier viel eher Selbstverlust als Selbstverwirklichung.

Ein Viertel der Beschäftigten in Österreich arbeitet regelmäßig in der Freizeit, viele auch im Urlaub, ein Viertel im Krankenstand.


uni:view: Was hat das für konkrete Folgen für unsere Arbeit?

Michalitsch: Das fördert Anpassung und Gehorsam, das passiviert und entsolidarisiert. Dann werden Niedrigstlöhne, Prekarisierung und Sozialabbau und die Verschlechterung von Arbeits- und Lebensbedingungen widerspruchslos hingenommen. Das erzeugt Ohnmachtsgefühle, Frustration und Aggression, die sich schließlich gegen "die Anderen" richtet. Hier zeigt sich die Verbindung von Neoliberalismus und Rechtsextremismus.

uni:view: Inwiefern?
Michalitsch: Nicht nur im Diskurs, auch durch ihre ökonomische Positionierung werden spezifische gesellschaftliche Gruppen zu "Anderen" gemacht, seien es MuslimInnen, Asylsuchende oder Frauen. Die jeweiligen "Anderen" werden entdifferenziert, entindividualisiert und gegenüber einem homogenisierten "Wir" abgewertet. So wird Gesellschaft gespalten, die "Einen" können dann leicht gegen die "Anderen" ausgespielt werden. Druck, Frustration und Aggression richten sich dann gegen die sozial schwächeren "Anderen".

Die Abwertung der "Anderen" wird zur letzten Quelle vermeintlicher eigener Stärke und Überlegenheit. Insofern verbindet sich Neoliberalismus mit Rassismus, Nationalismus oder Chauvinismus . Das neoliberale Wettbewerbsprinzip kippt in ein sozialdarwinistisches Überlebensprinzip.


uni:view: Wie werden wir morgen arbeiten?

Michalitsch: Das hängt von den politischen und gesellschaftlichen Kämpfen um Arbeit in den nächsten Jahren ab. Wenn sich die Entwicklungen der letzten Dekaden jedoch ungebrochen fortsetzen, dann wohl hochgradig entgrenzt, überwacht, prekär und unbezahlt. In recht autoritären Beziehungen und – angesichts der ökologischen Katastrophe – mit überaus fragwürdigen Produkten.

uni:view: Welche Maßnahmen müssten heute gesetzt werden, damit das nicht eintritt?
Michalitsch: Wir müssen Arbeitsverhältnisse regulieren, klare Grenzen zwischen Arbeitszeit und Freizeit ziehen, Versorgungsarbeit dabei berücksichtigen, digitale Überwachung gesetzlich beschränken und universelle soziale Sicherung gewährleisten. Darüber hinaus aber müssen wir Arbeit demokratisieren – und damit letztlich unsere Produktionsweise. Wir müssen uns von der zerstörerischen Wachstumsideologie verabschieden und unsere Vorstellung von Wohlstand als Anhäufung von Waren in Frage stellen. Bedeutet wahrer Reichtum nicht vielmehr soziale Beziehungen, frei verfügbare Zeit, persönliche Entwicklungsmöglichkeiten, geistige und sinnliche Erfahrungschancen? Und wir müssen die grundlegenden Fragen nach dem, wer was wie produziert, demokratisch entscheiden.

Das bedeutet auch, das Bildungswesen neu auszurichten, auf Kritikfähigkeit, Emanzipation und demokratische Auseinandersetzung . Ein Verständnis von Bildung als reine Ausbildung bedeutet nicht nur Verengung und Verdummung, sondern eine Bedrohung für eine demokratische Gesellschaft. Menschen, die gesellschaftliche Zusammenhänge nicht verstehen, kann man beliebig manipulieren. Wer die Welt nicht versteht, versteht auch sich selbst nicht in dieser Welt. Die Folge ist ein grundlegender Sinnverlust. Das kann nur katastrophal enden.

Dabei benötigen wir das genaue Gegenteil, nämlich ein Verständnis von gesellschaftlichen Zusammenhängen, Klarheit über uns selbst, unser Verhältnis zueinander und zur Natur. Wir müssten unsere Arbeit also gänzlich anders einsetzen, um der ökologischen Bedrohung, der völligen Aushöhlung von Demokratie und der Zerstörung sozialer Beziehungen entgegenzuwirken.

uni:view: Vielen Dank für das Gespräch! (mw)

Gabriele Michalitsch ist Politikwissenschafterin und Ökonomin und lehrt an der Universität Wien am Institut für Politikwissenschaft sowie im Masterprogramm Gender Studies. 2002–2005 war sie Vorsitzende der ExpertInnengruppe des Europarats zu Gender Budgeting. Sie hatte (Gast-)Professuren u. a. in Istanbul, Budapest und Peking inne. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Politische Ökonomie, Feministische Ökonomie und politische Theorien.