Politische Entscheidungen in Zielkonflikten
| 15. Mai 2020Vermeidung von Toten oder wirtschaftliches Desaster? Überlastung der Intensivstationen oder gesundheitliche Kollateralschäden? Im Gastbeitrag erklärt Wolfgang Mazal, Jurist an der Uni Wien, das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik bei gesellschaftlich wichtigen Entscheidungsfragen.
Für Jurist*innen ist die Antwort auf die Frage nach der gesellschaftlichen Organisation von Diskurs und Entscheidung selbstverständlich: Verbindliche Entscheidungen werden nach unserer Verfassung in den demokratisch legitimierten Gremien getroffen.
In der Realität mischen allerdings immer auch andere Instanzen mit: Sozialpartner, Expert*innen, Zivilgesellschaft, Medien, pressure-groups. Damit wird die Entscheidungsfindung im Dilemma der Auswirkungen auf die Betroffenen und die Akzeptanz durch diese immer schwieriger. Insbesondere, je mehr multidisziplinäre Implikationen die Entscheidungen haben (wenn deren Relevanz sogar innerhalb der jeweiligen Disziplinen kontrovers ist), und je vielfältiger die von den Entscheidungen betroffenen Interessen sind (wenn sie zum Teil diametral konträr sind).
Wichtige Rolle der Wissenschaft
Eine wichtige Aufgabe haben dabei Wissenschafter*innen zu erfüllen: Sie leisten einen zentralen Beitrag zur Aufbereitung der Entscheidungsgrundlagen mit möglichst großer Rationalität und spielen eine wichtige Rolle bei der Vermittlung von Entscheidungsgrundlagen wie auch der kritischen Erklärung von Entscheidungen: Einerseits gegenüber der Politik, andererseits gegenüber der Zivilgesellschaft.
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Von neuen familiären Abläufen bis hin zu den Auswirkungen auf Logistikketten: Expert*innen der Universität Wien sprechen über die Konsequenzen des Corona-Virus in unterschiedlichsten Bereichen. (© iXismus/Pixabay)
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Dabei stehen Wissenschafter*innen ihrerseits vor mehreren Dilemmata: Wenn Fragen innerdisziplinär oder auch interdisziplinär kontrovers sind, müssen sie ihrerseits eine Relativierung ihres "Wissens" kommunizieren und können die Erwartungen einer Gesellschaft nicht erfüllen, die sich größtmögliche Eindeutigkeit wünscht. Gleichzeitig müssen sie sich nicht nur als "Gegenüber" von Zivilgesellschaft und Politik begreifen, sondern sind (manchmal) selbst Politiker*innen oder (meist) Teil der Zivilgesellschaft. In dieser Mehrfachrolle liegen strukturell geradezu zwangsläufig Versuchungen der Rollenvermischung ebenso wie Defizite zwischen wissenschaftlichem Anspruch und seiner Realisierung.
Schließlich ist noch zu akzeptieren, dass in demokratischen Gesellschaften nicht nur rationale, sondern auch emotionale Aspekte berücksichtigt werden müssen. In diesen spiegeln sich oft subjektive Präferenzen gesellschaftlicher Akteure, die für die Entscheidung im Wahlakt eine größere Rolle spielen als Sachfragen. Will man den Wähler*innen deshalb vor der Wissenschaft entmündigen?
Rationale und emotionale Interessen
Allerdings – und damit kehren die Überlegungen zum Ausgangspunkt zurück: Unter Berücksichtigung dieser Punkte ist eine demokratische Entscheidung zur Lösung hochkomplexer Fragen in diametral entgegenstehenden Interessenlagen unter jeweils gewählten konkreten Blickwinkeln in einem hohen Grad unbefriedigend, je mehr rationale und emotionale Interessen berücksichtigt werden.
Demokratisch legitimierte Entscheidungen in pluralistischen Gesellschaften können daher nur selten Partikularinteressen komplett zufrieden stellen. Oder positiv formuliert: das Befriedigende an demokratischen Entscheidungen ist, dass sie im Idealfall versuchen, einer Vielzahl von Interessen in möglichst großem Ausmaß Rechnung zu tragen und sich nicht nur auf die Seite bestimmter Interessen zu schlagen. Letztlich realisiert sich die Annäherung an eine generelle Sachgerechtigkeit in einer relativ großen Bandbreite der Berücksichtigung zahlreicher Partikularsichten.
Chance auf einen kontinuierlichen Dialog
Damit ist für mich auch das Verhältnis von Wissenschaft und Politik bestimmt, das in der Realität ein Verhältnis von Wissenschafter*innen und Politiker*innen ist. Politische Entscheidungsträger*innen sollten Wissenschafter*innen in die Aufbereitung der Entscheidungen einbinden; inadäquat wäre jedoch, wenn Politik ihre Entscheidungen an eine gleichsam als abstrakte Autorität begriffene Wissenschaft bindet. Wissenschafter*innen – und mit ihnen die Zivilgesellschaft – sollten jedoch akzeptieren, dass Politiker*innen auch anderen Entscheidungsdeterminanten unterliegen.
Hier liegt die Chance auf einen kontinuierlichen Dialog: Getragen von der Verschiedenheit der Aufgaben und vom Respekt vor der jeweiligen Rolle im gesellschaftlichen Willensbildungsprozess, getragen aber auch vom Verständnis dafür, dass jedes Erkennen Stückwerk und jede Entscheidung unvollkommen ist.
Dieser Beitrag ist als editorial in ecolex 5/2020 (Verlag MANZ, Wien) erschienen.