Lieselotte Ahnert: "Die Zeit war reif für Väterforschung"

Die Entwicklungspsychologin Lieselotte Ahnert verabschiedet sich in den Ruhestand. Grund genug, nicht nur einen Rückblick auf das bewegte Forscherinnenleben der 65-Jährigen zu geben, sondern auch einen Ausblick auf zukünftige Aktivitäten – wie die neugegründete Forschungsgruppe "Early Childhood in Context".

1985, vier Jahre vor dem Mauerfall, stand Lieselotte Ahnert mit einer – für heutige Verhältnisse – riesigen Kamera auf der Schulter und einem Rekorder in der Tasche in einer Ostberliner Kinderkrippe. Ihr Auftrag: Die Erforschung der Entwicklungskonsequenzen außerfamiliärer Tagesbetreuung, denn Lieselotte Ahnert war seit 1982 Leiterin der Arbeitsgruppe "Frühsozialisation" am Institut für Hygiene des Kindes- und Jugendalters (IHKJ). Das eigens für die Psychologin aus dem Westen importierte Video-Equipment war eine Sensation – und das erstellte Videomaterial sollte nach dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 der Wissenschafterin dabei helfen, "die Wende zu überstehen". Aber dazu später mehr...

Die Anfänge

Nach ihrer Promotion an der Humboldt-Universität zu Berlin verließ die damals 30-Jährige – trotz Angebot einer Postdoc-Stelle – zunächst die universitäre Forschung: "Ich war zwar nicht in der SED organisiert, dennoch mussten wir mit den Studierenden viel politische Arbeit machen. Die ständigen Polit-Kampagnen haben mich frustriert und ermüdet, so dass ich aus diesem Betrieb raus wollte."

Durch den Kontakt zu einem Kinderarzt, der 50 Kindereinrichtungen in Ostberlin leitete, wurde Ahnert Leitende Psychologin der Krippenvereinigung des Berliner Stadtbezirks Prenzlauer Berg – damals eines der schwierigsten Viertel Ostberlins. Sie betrat damit absolutes Neuland: "Zuvor ging es in solchen Einrichtungen rein um die medizinische Betreuung der Kinder, nun gab es erstmals eine Psychologin", erzählt Ahnert und ergänzt: "Ich empfand es als spannend, mich mit der Psychologie der Frühentwicklung beschäftigen zu können, die damals erst in den Anfängen war. Allein innerhalb eines halben Jahres begegneten mir so viele brennende entwicklungspsychologische Probleme, die musste ich einfach erforschen."

Das eigene Institut

Einige Zeit später filmte und forschte Lieselotte Ahnert dann mit besagter Kameraausrüstung in Ostberliner Kinderkrippen. Nach dem Mauerfall entschied eine westdeutsche Evaluationskommission über den Fortbestand ihrer Abteilung. "Die Evaluationskommission war platt, dass wir im Osten mit einer solchen Technik arbeiteten", berichtet die Psychologin ein wenig stolz. So wurde zwar das Ostberliner IHKJ aufgelöst, Ahnerts Abteilung blieb aber als eine von zweien bestehen. Doch nicht nur das: Die Entwicklungspsychologin bekam das Angebot einer Grundfinanzierung für die Gründung eines eigenen Instituts. So entstand im Jahr 1991 das "Interdisziplinäre Zentrum für Angewandte Sozialisationsforschung", das Lieselotte Ahnert, die sich 2000 habilitierte, bis 2001 leitete.

Lieselotte Ahnert war von 1996 bis 1999 als Austauschwissenschafterin am NICHD (Washington, Bethesda, USA) am Department für Soziale & Emotionale Entwicklung tätig. Wiederholte Aufenthalte führten sie außerdem an Universitäten in Maryland, Chicago, Wisconsin und Minnesota. Im Bild: Lieselotte Ahnert mit ihrem damaligen Supervisor Michael Lamb beim Sichten von Videos. (Foto: privat)

Es folgten Vorlesungen und Seminare als Privatdozentin an der Freien Universität Berlin, und immer wieder die Institutsarbeit, wo sie sich in einer Studie u.a. mit Stressmustern von Kindern bei der Eingewöhnung in die Krippe beschäftigt. Dazu analysierten Ahnert und ihr Team u.a. das Stresshormon Cortisol aus dem Speichel der Kinder. Ein neuer Forschungsbereich – Biopsychologie – und wieder neue technische Methoden. Es ist die Neugierde, die Lieselotte Ahnert ihr Leben lang an- und umtrieb. "Die Bearbeitung von ungelösten gesellschaftsrelevanten Problemen, die oftmals so naheliegend, aber in der Forschung noch unbeantwortet sind, finde ich unglaublich spannend."

So mischte die Wissenschafterin mit den Ergebnissen der Studie die Bindungstheorie auf, in der bis dato der Mythos herrschte, dass eine sichere Mutter-Kind-Bindung in den ersten Lebensjahren Kinder vor Stress schütze. "So einfach ist das aber nicht", betont Ahnert: "Auch diese Kleinkinder sind bei einer Außer-Haus-Betreuung vor allem anfangs durch die tägliche Trennung einer hohen Stressbelastung ausgesetzt. Das sogenannte Urvertrauen ist also nicht stabil. Allerdings können die Trennungsreaktionen durch eine elterliche Begleitung bei der Eingewöhnung der Kinder verbessert werden." In einer anderen Studie konnte Lieselotte Ahnert entgegen vieler Vorstellungen nachweisen, dass die außerfamiliäre Betreuung – entspricht diese den üblichen Qualitätsstandards – kein Entwicklungsrisiko für Kleinkinder darstellt.

Von Tagesmüttern zu Vätern

Nach Professuren an der Hochschule Magdeburg-Stendal und der Universität zu Köln kam Ahnert schließlich 2008 an die Universität Wien, wo sie Österreichs erste Professorin für Entwicklungspsychologie mit einer Orientierung auf die frühe Kindheit wurde. Als Leiterin des Arbeitsbereichs Entwicklungspsychologie führte die wissenschaftliche Neugierde sie nach einer großangelegten Studie über die frühkindliche Entwicklung bei Tagesmüttern schließlich zu den bislang kaum erforschten Vätern. Gemeinsam mit fünf KollegInnen aus Deutschland und der Schweiz gründete Ahnert 2013 das "Central European Network on Fatherhood" (CENOF), das die Vaterschaft in verschiedenen Projekten untersucht, wie z.B. die Vater-Kind-Bindung (zum uni:view Artikel).

Mittlerweile beschäftigt sich die ambitionierte Wissenschafterin sogar mit Genetik: "Kleine Abweichungen im Genpool können zu Verhaltensänderungen führen, die manche Kinder schon im frühen Alter ängstlicher oder weinerlicher, andere dagegen robuster und aktiver machen. Auf die Frage, wie auf diese Unterschiede angemessen reagiert werden muss, ergeben sich zielführende Schlussfolgerungen für die private und öffentliche Betreuungspraxis."

Emeritierung – aber die Forschung geht weiter

Im Februar dieses Jahres stand für Lieselotte Ahnert im Alter von 65 Jahren nun die Pensionierung an – doch ihre Forschungen gehen natürlich weiter. Es gibt noch eine Vielzahl ungelöster entwicklungspsychologischer Probleme, denen es nachzugehen gilt. "Ich würde z.B. gerne noch mehr über den väterlichen Einfluss auf die emotionale Regulation und Stressverarbeitung der Kinder herausfinden", erzählt die Psychologin. Der Universität Wien bleibt sie deshalb auch nach der Pensionierung verbunden. Seit März 2017 leitet sie die selbstständige Forschungsgruppe "Early Childhood in Context (ECC)", in der sie gemeinsam mit JungwissenschafterInnen und GastprofessorInnen Fragen der Bindungs-, Väter- und ChildCare-Forschung nachgeht.

Diese Forschungsgruppe wird bis 2019 die Arbeiten von Stefanie Höhl, die im September die Nachfolge Ahnerts am Institut für Angewandte Psychologie: Gesundheit, Entwicklung und Förderung antreten wird, flankieren. "Ich freue mich, dass es auf diese Weise möglich ist, den umfangreichen Forschungsertrag aus der Entwicklungspsychologie der letzten Jahre in möglichst vielen Publikationen und auf Kongressen sichtbar zu machen. Diese großartige Unterstützung vom Rektorat, unserer Fakultät, aber auch den Stiftungen bekommen zu haben, ist für uns Ansporn und Verpflichtung zugleich", so Lieselotte Ahnert. Dass der Ansporn nicht verloren geht, ist sicher. "Neues Wissen über unbekannte Dinge zu generieren, ist die Sache, die mich am Leben hält", schmunzelt die sympathische Wissenschafterin. (mw)