90 Jahre Entwicklungspsychologie: Lieselotte Ahnert im Interview

Ab den 1920ern galt Wien – rund um Charlotte und Karl Bühler – als das "Mekka der europäischen Psychologie". Durch den Nationalsozialismus jäh unterbrochen, wurde die Bühler-Tradition in den 70ern aufgegriffen. Lieselotte Ahnert erzählt vom erneuten Aufblühen der Wiener Entwicklungspsychologie.

uni:view: Welchen Stellenwert hat die Entwicklungspsychologie der Universität Wien im internationalen Vergleich?
Lieselotte Ahnert: Als Charlotte Bühler eine systematische entwicklungspsychologische Forschung an der Universität Wien entwickelte, wurde sie gemeinsam mit ihrem Mann alsbald zu einem Anziehungspunkt für viele KollegInnen im In- und Ausland. Wien avancierte in den 1920er und 1930er Jahren damit zum "Mekka der europäischen Psychologie" schlechthin. Mit dem Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland 1938 wurde diese Entwicklung jedoch jäh unterbrochen und hat sich nach dem Krieg nur schwer erholen können, nachdem die Bühlers (die mittlerweile im Exil in den USA waren) es auch abgelehnt hatten, zurückzukehren und ihre Arbeit wieder aufzunehmen.

Die an die Bühler-Tradition dann in den 1970er Jahren anknüpfende Forschung ist in den deutschsprachigen Ländern Europas sehr geschätzt worden, darüber hinaus jedoch weitgehend unbekannt geblieben. Seit den letzten fünf Jahren ist durch theoretisch brisante und gesellschaftsrelevante Themenstellungen mit modernen Forschungszugängen eine erhöhte internationale Aufmerksamkeit und Resonanz entstanden, die wir am 22. und 23. November auf dem "Charlotte Bühler Festsymposium" anlässlich des Jubiläums 90 Jahre Entwicklungspsychologie sichtbar werden lassen.

uni:view: Welche Forschungsschwerpunkte werden momentan im Arbeitsbereich Entwicklungspsychologie an der Fakultät für Psychologie gesetzt?
Ahnert: Unsere wichtigsten Forschungsschwerpunkte spiegeln sich auch in den vier Themenbereichen des Festsymposiums wider: Bindungs-, Stress- und Traumaforschung sowie unsere wichtigsten Problemstellungen aus einer erst jüngst angelegten Netzwerkforschung zum Thema Vaterschaft.


Vater: Der unerforschte Elternteil
Die Rolle der Mutter ist in der Psychologie gut erforscht. Anders sieht es mit der des Vaters aus. Diesem Forschungsdesiderat möchte die Psychologin Lieselotte Ahnert gemeinsam mit fünf internationalen ForscherInnen in einem kürzlich gestarteten Projekt entgegentreten. (Foto: Andrea Witting)
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uni:view: Welchen Stellenwert haben Charlotte Bühlers Erkenntnisse in der heutigen Entwicklungspsychologie?
Ahnert: Charlotte Bühler hat den damals vereinzelten und spontan entwicklungsorientierten Forschungsarbeiten theoretische und empirische Grundlagen gegeben, die in der Folge dann weiter ausgebaut wurden.

Detaillierte Verhaltensbeobachtungen und standardisierte Testungen stehen dabei auch noch heute im Mittelpunkt entwicklungspsychologischer Forschung. Ihren MitarbeiterInnen hat sie vorgelebt, dass sie durch ihr Wirken Mitverantwortung für die Schicksale von Menschen tragen. Von dieser ethischen Seite unserer Profession können wir auch heute noch lernen.

uni:view: Was ist für Sie persönlich das Faszinierendste an Entwicklungspsychologie?
Ahnert: Die Entwicklung von einem unreifen und völlig hilflos erscheinenden Neugeborenen zu einer selbstbestimmten Persönlichkeit ist ein faszinierender Prozess, der vor allem in seinen Anfängen immer noch viele Rätsel aufgibt. (sb)


Charlotte Bühler Festsymposium: 90 Jahre Entwicklungspsychologie in Wien
Vor 90 Jahren nahm rund um Charlotte Bühler eine Wiener Forschungstradition ihren Anfang, die heute fest an der Universität Wien verankert ist: die Psychologie der Kindheit. Das Jubiläums-Symposium am 22. und 23. November spannt den Bogen zur aktuellen Forschung an der Fakultät für Psychologie.
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Univ.-Prof. DDr. Lieselotte Ahnert ist Professorin für Entwicklungspsychologie sowie stv. Vorständin des Instituts für Angewandte Psychologie: Gesundheit, Entwicklung und Förderung
an der Fakultät für Psychologie der Universität Wien. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören u.a. "Kleinkinder in familiärer und außerfamiliärer Betreuung: Entwicklungskonsequenzen", "Beziehungsbezogene Determinanten früher Bildung: Erzieher(innen)-Kind-Beziehungen" und "Die Mutter-Kind-Bindung und ihre Variationen".

Charlotte Bühler Festsymposium: 90 Jahre Entwicklungspsychologie in Wien
Freitag und Samstag, 22. und 23. November 2013
Programm und Veranstaltungsorte
Flyer (PDF)