Buchtipp des Monats von Carina Altreiter

Carina Altreiter mit Buch auf einer Treppe sitzend

In Ihrer jüngsten Publikation beschäftigt sich die Soziologin Carina Altreiter mit der Klassenherkunft anhand junger IndustriearbeiterInnen hierzulande. Warum Klassenforschung noch immer aktuell ist, wo sie Arbeit in Zukunft verortet und welches Buch sie selbst empfiehlt, sagt sie im Interview.

uni:view: Ihre gerade erschienene Publikation "Woher man kommt, wohin man geht" dreht sich um die Zugkraft der Klassenherkunft am Beispiel junger IndustriearbeiterInnen in Österreich. Was ist das wesentliche Anliegen Ihres Buches?
Carina Altreiter: In dem Buch geht es mir darum die Notwendigkeit einer Klassenperspektive für die Analyse sozialer Phänomene zu verdeutlichen. In der Arbeitssoziologie stellte soziale Klasse lange Zeit eine wichtige analytische Kategorie dar, geriet dann aber vor dem Hintergrund eines gesellschaftlichen Wandels ins Abseits. Meine Beobachtung war, dass in zahlreichen Studien die Klassenlage sich – wenn man so möchte – förmlich aus dem Material aufdrängte, aber nicht weiter beachtet wurde bzw. die dafür notwendigen heuristischen Werkzeuge zu fehlen schienen, um damit verbundene Phänomene angemessen erfassen zu können.

Die Ursachen für diese Bedeutungsverluste sind mannigfaltig: Der eben angesprochene soziale Wandel hat die Erscheinungsformen sozialer Ungleichheit deutlich verändert. Zweitens ist der Klassenbegriff vor allem in deutschsprachigen Raum stärker ideologisch aufgeladen – als das beispielweise in Großbritannien der Fall ist. Darüber hinaus hat auch das in der Öffentlichkeit sichtbarste Rückgrat des Klassenbegriffs – die Arbeiterinnen und Arbeiter – ebenfalls an Bedeutung eingebüßt. Mit dem Buch sollen auch diese scheinbar vergessenen Lebensrealitäten wieder vor den Vorhang geholt werden.

uni:view: Der Begriff "Soziale Klasse" hat fast schon historische Anmutungen. Warum ist er für Sie nach wie vor aktuell bzw. auch anwendbar, wie Sie am Beispiel junger IndustriearbeiterInnen zeigen?
Altreiter: Ich arbeite in meiner Studie mit dem Klassenmodell von Pierre Bourdieu, das auf die Hervorbringung von Klassenverhältnissen durch das Handeln der Menschen fokussiert. Da folge ich in gewisser Weise auch dem aktuellen, internationalen Diskurs in der Klassenforschung. Die Klassenperspektive ist notwendig, weil sie die Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die durch die Position in der kapitalistischen Arbeitsteilung bedingt sind, explizit offenlegt. Sie hilft uns, einen ganz spezifischen Mechanismus in der Reproduktion sozialer Ungleichheit zu verstehen. Nicht alle Gesellschaftsmitglieder haben die gleichen Chancen, die gleichen Bedingungen, nicht alles ist gleichermaßen für alle möglich. Gleichzeitig macht das Konzept von Bourdieu uns dafür aufmerksam, dass Klassenherrschaft nicht nur auf einer ökonomischen Ebene operiert: Es geht auch um kulturelle Praktiken und um symbolische Machtausübung, welche dazu beitragen die gesellschaftlichen Verhältnisse zu stabilisieren.

Jedes Semester stellt die Universität Wien ihren WissenschafterInnen die Semesterfrage. Im Sommersemester 2019 lautet sie "Wie werden wir morgen arbeiten?". Zur Semesterfrage (© Universität Wien)

uni:view: Konkret untersuchen Sie, wie die Klassenherkunft junger Industriearbeiterinnen und -arbeiter deren Übergang von der Schule in die Arbeitswelt prägt. Können Sie Ihre Ergebnisse dazu kurz skizzieren?
Altreiter: Ich habe mir die Wirkung der Klassenherkunft bei den jungen IndustriearbeiterInnen in drei Bereichen angeschaut: erstens an der Schnittstelle Schule-Arbeitswelt, zweitens im Kontext des Arbeitsplatzes und drittens im Hinblick auf die Verfestigung von beruflichen Positionen. Die Studie zeigt, dass soziale Klasse beim Übergang von der Schule in die Arbeitswelt wie ein Magnet wirkt, der Kinder aus der Schule wegzieht und gleichzeitig den raschen Eintritt in die Arbeitswelt anziehend macht.

Verantwortlich für diese Anziehungskraft sind zum einen während der Kindheit erworbene Vorlieben für körperliche, manuelle Tätigkeiten, die gleichzeitig "geistige", im Sitzen verrichtete Tätigkeiten als langweilig und "ungeeignet" erscheinen lassen. Zum anderen wird der Erwerbsarbeit im Herkunftsmilieu eine hohe Bedeutung beigemessen. Eine Arbeit zu haben, fleißig zu sein, sich selbstständig versorgen zu können – das alles ist mit Anerkennung verbunden. Die Möglichkeitsräume, die sich für Jugendliche an dieser Schnittstelle auftun, sind hochgradig durch die Klassenherkunft begrenzt und beeinflussen die Entscheidungen, die hier getroffen werden.

uni:view: Unsere aktuelle Semesterfrage "Wie werden wir morgen arbeiten?" passt thematisch gut zu Ihrer Publikation. Wie beantworten Sie die Frage durch Ihre fachliche Brille gesehen?
Altreiter: Zunächst, denke ich, werden wir eine weitere Polarisierung der Arbeitsverhältnisse erleben: auf der einen Seite die gut abgesicherten Jobs mit guten Arbeitsbedingungen, auf der anderen Seite Jobs mit schlechten Arbeitsbedingungen und wenig sozialer Absicherung. Im Hinblick auf Digitalisierung verweisen Studien auf ungleichzeitige Entwicklungen. Niedrigqualifizierte Tätigkeiten im produzierenden Bereich werden sich in Österreich durchaus auf einem bestimmten Level halten und nicht vollständig durch Automatisierung wegfallen. Andererseits werden gerade im höherqualifizierten Dienstleistungsbereich Tätigkeiten durch technologischen Fortschritt entwertet oder auch überflüssig. In Verbindung mit steigender Produktivität wird es letztendlich notwendig sein, das Verhältnis von Erwerbsarbeit, aber auch anderen gesellschaftlich notwendigen Arbeiten, und Existenzsicherung neu zu denken.

Das Gewinnspiel ist bereits verlost. Doch die gute Nachricht: In der Universitätsbibliothek stehen die Bücher interessierten LeserInnen zur Verfügung:

1 x "Woher man kommt, wohin man geht" von Carina Altreiter
1 x "Das Zimmer" von Jonas Karlsson

uni:view: Welches Buch empfehlen Sie unseren LeserInnen?
Altreiter: Das Buch "Das Zimmer" vom schwedischen Autor Jonas Karlsson.

uni:view: Einige Gedanken, die Ihnen spontan zu diesem Buch einfallen?
Altreiter: Wir treffen den Ich-Erzähler Björn, der in einer "Behörde" arbeitet. Er ist ein egozentrischer Aufsteiger und repräsentiert in gewisser Weise auch den Idealtypus des homo oeconomicus: effizient, fokussiert, strategisch. Alle Tätigkeiten – auch der Umgang mit den KollegInnen – sind am eigenen Weiterkommen ausgerichtet. Er ist von seiner eigenen Überlegenheit sichtlich überzeugt. Nach und nach entsteht beim Lesen allerdings der Eindruck, dass der Ich-Erzähler unzuverlässig ist. Wie Björn den Büroalltag wahrnimmt, scheint sich nicht ganz mit seiner Umgebung zu decken. Liegt das Problem bei Björn – wie alle meinen – oder handelt es sich um ein orchestriertes Komplott, um seinen Aufstieg zu verhindern?

uni:view: Sie haben den letzten Satz gelesen, schlagen das Buch zu. Was bleibt?
Altreiter: Die Erzählperspektive zieht uns tief in die Welt von Björn, der einem durch seine exzentrische Art zunächst eher unsympathisch ist, für den man aber nach und nach auch Empathie entwickelt. Er weiß mit den Konventionen sozialer Beziehungen nur wenig anzufangen und hat für sich ein Universum geschaffen, aus dem er sprichwörtlich nicht heraustreten kann. Das Buch thematisiert damit auch Fragen der Grenzen der Toleranz für das Andere, die hier für die KollegInnenschaft bis auf das Äußerste ausgereizt wird. (td)

Carina Altreiter ist Postdoc am Institut für Soziologie an der Universität Wien. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Arbeitssoziologie, soziale Ungleichheit und sozialer Wandel, Frauen- und Geschlechterforschung sowie Methoden der qualitativen Sozialforschung.