Wissenschaftskulturen im Wandel: Geistes- trifft Naturwissenschaft
| 22. Januar 2015In ihrem Gastbeitrag sieht sich die Historikerin und Co-Organisatorin der Ringvorlesung "Die Wiener Universität 1365-2015", Marianne Klemun, Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Wissenschaftskulturen an.
Eine strikte Unterscheidung von ausschließlich zwei Wissenschaftskulturen – den Natur- und Geisteswissenschaften (wichtig dafür J. P. Snows Essay/ 1959) – ist aus wissenschaftshistorischer Sicht problematisch, weil die Gefahr besteht, methodische Grenzziehungen aus heutiger Perspektive zurückzudenken und allgemein zu setzen. Konzentriert man sich nicht nur auf die Physiologie und Physik, von der die Abgrenzung aus methodischen Gründen vehement ab etwa 1880 betrieben wurde, sondern auch auf andere Fächergruppen, nämlich Geologie, Botanik und Geschichte in der Mitte des 19. Jahrhunderts, so erweisen sich vermeintliche Grenzlinien in Richtung eines gemeinsamen kulturelles Territorium verschoben.
Geschichte und Geologie
Zuschreibungen für Praktiken wie das "Erschließen" von "Fundstätten" tauchten nicht nur in den Altertumswissenschaften, sondern auch daraus entlehnt bei Geologen auf, wenn sie ihre Tätigkeiten im Gelände umschrieben: Sie sprachen von den "Archiven der Erde", aus deren "Eingeweide derselben die Monumente der Vorzeit gegraben werden", dass sie "die Überreste derselben sammeln" und "den Anzeichen von Veränderung nachspüren", die zur Kenntnis "vergangener Ereignisse" und "zu den verschiedenen Epochen" derselben führen.
Der "neue" Historiker als naturforschender "Entdeckungsreisender" – Vergleichbare Methodik
Sammlungen von Akten und Urkunden, die institutionellen Archive, stellten auch für Historiker ein ganz neues "Gelände" dar, in dem zunächst Regesten gesucht und erstellt wurden. Nach diesem Prinzip wurde geordnet und abgeschrieben. Es war kein Zufall, dass der Historiker Droysen später die Quellenarbeit als "Bergmannskunst" bezeichnete. In seinen "Römischen Erinnerungen" nannte der an der Universität Wien wirkende Historiker Sickel "seine" italienischen Archive in Rom "seine Fundstätten".
Die Universität Wien feiert 2015 ihr 650-Jahre-Jubiläum. Im Wintersemester widmet sich eine eigene Ringvorlesung der Geschichte der ältesten Universität im deutschsprachigen Raum: "Die Wiener Universität 1365-2015. Tradition als Innovation und Ort der Begegnung" LV-LeiterInnen: Marianne Klemun und Martin Scheutz. |
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Der Zugang zu den Archiven musste in dieser Zeit erst erkämpft werden, dann erst wurden Wege gefunden, das Material im Überblick zu sichten. Im Sinne vom Konzept Bachelards, der "technischen Herstellung eines Forschungsgegenstandes", waren in dieser Phase der Urkundenlehre die "Indices" über die Bestände die neuen Gegenstände der historischen Forschung, welche einen Möglichkeitsraum "erschlossen". Was später als Aufgabe ausschließlich in die Hände der Archivare übergehen sollte, war zu diesem Zeitpunkt noch Arbeitsfeld der Historiker, was für Sickel eine große Herausforderung darstellte.
"Editionstechnik" und Quellenkritik in Geschichtswissenschaft und Botanik
In den Jahren 1879–1893 edierte Sickel als Professor am Institut für Österreichische Geschichtsforschung gemeinsam mit den von ihm ausgebildeten Mitarbeitern insgesamt 1.300 Urkunden. Die Editionstechnik war keineswegs nur den Historikern vorbehalten. Franz Unger, Professor der Botanik der Wiener Universität, Anhänger des Evolutionsgedankens lange vor Darwin, legte in seinen paläontologischen Veröffentlichungen ebenfalls eine Art von "monumentaler" Edition vor, denn darin wurden mehr als 1.600 Specimen abgebildet, datiert und benannt. Anton Kerner von Marilaun (1831–1898), Professor für Botanik an der Universität Wien, machte das historische Denken zu einem festen Bestandteil seiner botanisch-biologischen Forschungskonzepte, der "Bastardisierung" als Grundlage für die Variabilität und Bildung neuer Arten, was er experimentell analysierte.
Umso mehr erstaunt es, dass sich Kerner in seiner Arbeit über die "Flora der Bauerngärten" auch als seriöser Historiker betätigte: Er stützte sich nicht auf Empirie, sondern dezidiert auf historische Quellen. Er ging nicht in die Gärten und listete die Arten auf, sondern konsultierte beispielsweise die "Capitularia" Karls des Großen. Er betrieb wie die Historiker Quellenkritik, erläuterte akribisch Abschreibfehler und bediente sich der lateinischen Glossarien, um die gültigen Bezeichnungen der Gartenpflanzen zu eruieren. Die Bauerngärten wurden so zu Orten einer erhaltenen archaischen Kultur, die er wie die Historiker als "Überreste" in unveränderte Zeugen der Vergangenheit verwandelte.
So existieren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei Naturforschern und Historikern, die an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien wirkten, zwar unterschiedliche Untersuchungsobjekte, aber auch gemeinsame Methoden und Praktiken, welche einen wichtigen Bestandteil der sonst durchaus vielen unterschiedlichen Wissenskulturen darstellten.
Marianne Klemun ist Professorin am Institut für Geschichte der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät. Gemeinsam mit Martin Scheutz, ebenfalls Professor am Institut für Geschichte, organisiert sie die Ringvorlesung "Die Wiener Universität 1365-2015. Tradition als Innovation und Ort der Begegnung".