Der "Homo Academicus" durch die Jahrhunderte

Der Historiker Marian Füssel widmet sich in seinem Beitrag zur Ringvorlesung "Die Wiener Universität 1365-2015" den verschieden Typen von Studierenden und ProfessorInnen im Laufe der Zeit: von Cornelius Relegatus bis Indiana Jones.

Die europäische Universität zählt zu den wenigen institutionellen Erfindungen des Mittelalters, die sich bis heute in ihrer äußeren Gestalt weitgehend erhalten haben. Gerade diese Kontinuität der institutionellen Formen und ihrer symbolischen Ordnung ist es, die in besonderem Maße einer historischen Erklärung bedarf. So gilt es, sich zunächst bewusst zu machen, dass die Universität als institutionelle Ordnung nicht allein aus äußeren Attributen oder den materiellen Manifestationen in Gestalt von Gebäuden und Bibliotheken besteht, als vielmehr aus den Mitgliedern der "universitas" selbst, in erster Linie den Studenten und Professoren. Beide Gruppen haben über die Jahrhunderte bestimmte soziale Typen ausgebildet, deren Habitus, als dem Körper eingeschriebene Geschichte, einen wesentlichen Garanten institutioneller Stabilität bildet.

Studentensprache und Studentenkultur

Als soziale Gruppe wiesen die Studenten einerseits einen hohen internen Differenzierungsgrad auf, andererseits waren sie nach außen durch ein großes Maß an Gruppensolidarität geprägt. Bereits eine eigene Studentensprache unterschied die Studentenkultur von der der "Philister" ihrer stadtbürgerlichen Umwelt. Zu den internen Unterscheidungskriterien zählten vor allem ständische Herkunft und landsmannschaftliche Zugehörigkeit. Im Schutz der akademischen Freiheit des privilegierten Personenverbandes der Universität bildeten sich spezifische studentische Lebensstile heraus, die oftmals in Konflikt mit geltenden Normen gerieten.

Antiheld Cornelius Relegatus


Ihre idealtypische Verkörperung fanden die Praktiken der frühneuzeitlichen studentischen Devianz in der Figur des "Cornelius Relegatus": Ein Student sitzt von einem Zweikampf verwundet in seiner mit Trink, Spiel- und Musiziergerät und zertrümmertem Mobiliar gepflasterten Studentenbude, als er Besuch von einer jungen Frau mit einem neugeborenen Kind im Arm bekommt, die ihre Alimente fordert. Die Wand schmückt ein sogenanntes Pumpregister, auf dem in Kreide alle ausstehenden Schulden aufgelistet sind, während an der Zimmertür bereits der Pedell die Vorladung zum Rektor anschreibt. Der Rostocker Magister Albert Wichgrev hatte im Jahr 1600 eine gleichnamige Komödie geschrieben, die zur Abschreckung von den Lastern des Studentenlebens dienen sollte. Von hier fand das Motiv dann Eingang in einzelne Stammbücher und wurde fortan in der studentischen Kultur jedoch nicht als Mahnung, sondern als Vorbild angeeignet. Der Cornelius wurde damit zum Antihelden des "burschikosen" studentischen Lebensstils (siehe Bild 2 in der Fotogalerie oben).

Weltfremd vs. weltgewandt


Besonders beliebt waren auch regionale Studententypen, als Personifikation der Praktiken der Galanterie (Leipzig), des Zweikampfes (Jena), des übermäßigen Alkoholkonsums (Wittenberg) und des braven Studiums bzw. einer pietistischen Frömmigkeit (Halle). Mit dem fechtenden Renommisten, dem Trinker, dem galanten Frauenheld und dem braven studierenden Mucker bzw. Kandidaten waren sowohl deviantes wie konformes, adeliges wie "bürgerliches" Milieu adressierbar.


Die Universität Wien feiert 2015 ihr 650-Jahre-Jubiläum. Im Wintersemester widmet sich eine eigene Ringvorlesung der Geschichte der ältesten Universität im deutschsprachigen Raum: "Die Wiener Universität 1365-2015. Tradition als Innovation und Ort der Begegnung" LV-LeiterInnen: Marianne Klemun und Martin Scheutz.
Termine



Im Verlauf der Frühen Neuzeit kam es auch zu einer Verdichtung und zunehmenden Selbstthematisierung professoraler Lebensformen, die sich im Wesentlichen zwischen zwei Extrempolen aufspannt. Auf der einen Seite steht der weltfremde Pedant, geprägt durch Weltvergessenheit, körperliche Gebrechen und eine vollständige Konzentration auf den eigenen Forschungsgegenstand, auf der anderen Seite der galante Gelehrte, der gepflegt, weltgewandt und kommunikativ ist, es dabei jedoch mit der Wissenschaftlichkeit nicht allzu ernst nimmt. Obwohl es sich bei beiden Figuren um eine idealtypische soziale Zuschreibung handelt, sind entsprechende Typisierungen nicht ohne sozialhistorischen Hintergrund in den Wahrnehmungsformen des gelehrten Habitus zu denken.

Von Helden und Antihelden

An universitären Habitusstereotypen herrscht bis heute kein Mangel und innerhalb der Helden und Antihelden der modernen Populärkultur wimmelt es von Akademikern, von Bienlein bis zu Indiana Jones und Robert Langdon, meist Männer und meist mit einem Professorentitel ausgestattet. Die älteren kulturellen Muster des weltabgewandten Pedanten und des weltgewandten galanten Gelehrten sind damit nicht verschwunden, aber zum Teil erweitert, ergänzt oder umgedeutet worden. Auch in der studentischen Kultur leben die frühneuzeitlichen Stereotype in zum Teil veränderter Gestalt fort. Der strebsame pietistische Kopfhänger ist vom Nerd ersetzt worden, der galante Leipziger Student bevölkert die Hörsäle in Jura und Betriebswirtschaft.

Im Gegensatz zur Vormoderne sind die heutigen Studententypen nicht nur von bestimmten politischen Lagern und Lebensstilen, sondern vor allem durch unterschiedliche Disziplinen- und Fachkulturen geprägt. Unterschiede, die für Studentinnen und Studenten und Professorinnen und Professoren gleichermaßen gelten. Entsprechende Typologien scheinen sich über die Jahrhunderte also einer gewissen Beliebtheit zu erfreuen. Sie geben kognitive Orientierung, erlauben eine Art mentale Kartierung der sozialen Welt und regen zur Selbstverortung an. Die Universitätsgeschichte wird jedenfalls wohl auch künftig nicht ärmer an kulturellen Ausformungen des "Homo Academicus" werden.

Univ. Prof. Dr. Marian Füssel ist Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der Wissenschaftsgeschichte am Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte der Georg-August Universität Göttingen.