Innovation an der Universität Wien aus historischer Sicht

Peter Becker, Professor am Institut für Geschichte, beschäftigt sich in seinem Gastbeitrag im Rahmen der Ringvorlesung "Die Wiener Universität 1365-2015" mit dem Innovationsgeist an der Universität Wien durch die Epochen hindurch.

Innovation als Leitbegriff der modernen Wissensgesellschaft bezeichnet nicht nur Neuentwicklungen im theoretischen, methodischen oder inhaltlichen Bereich, sondern auch deren Umsetzung und Anwendung. Für die Frage nach der Innovation an der Universität Wien stellt sich somit die Frage nach jenen neuen Erkenntnissen, die sich nicht nur im Arkanbereich fachwissenschaftlicher Debatten bewährten, sondern auch Relevanz für die Menschen außerhalb von Lehre und Forschung erhielten bzw. nachhaltige Impulse für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft bereitstellten.

An der Universität Wien hat Ausnahmeforschung lange Tradition. Die Übersetzung von Spitzenforschung in wirtschaftliche Neuerungen sowie gesellschaftspolitische Impulse ist allerdings ein Phänomen der Moderne. Deshalb behandelt mein Beitrag den Zeitraum ab den Reformen unter Thun-Hohenstein, mit denen eine moderne, forschungsorientierte Universität in Wien entstand. Zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und dem Beginn des Ersten Weltkrieges erlebte die Universität Wien einen regelrechten Boom: durch personellen Ausbau der Lehr- und Forschungskapazitäten, durch Neubau von Instituten mit verbesserter Raumausstattung, durch deutlichen Anstieg der Studentenzahlen und nicht zuletzt durch das hohe fachliche Niveau und die Kreativität von ausgezeichneten Wissenschaftern.

Faktor "Raum" als Voraussetzung für erfolgreiches Forschen

Am Beispiel des chemischen Instituts lässt sich gut nachvollziehen, wie sensibel die Zeitgenossen für die Bedeutung des Faktors "Raum" als Voraussetzung für erfolgreiches Forschen waren. Die beiden im Jahre 1872 neu eröffneten chemischen Institute hatten großzügige Laboratorien mit insgesamt 209 Arbeitsplätzen. Das Labor galt ebenso wie das Seminar und die Sammlung als Ort des strukturierten Austausches, des gemeinsamen Arbeitens, der Entwicklung von neuen Verfahren und der Produktion von neuem Wissen. In diesen Räumen – und nicht nur am chemischen Institut – entstanden Innovationen:

• als Spitzenbeiträge zur fachspezifischen Forschung, wie etwa die Forschungsarbeiten des Physiologen Robert Bárány, der 1914/16 – nur wenige Jahre nach seiner Habilitation – den Nobelpreis erhielt.
• als praxisbezogene technologische Verbesserung von Forschung und Lehre, wie das gemeinsam von dem Pathologen Salomon Stricker und einer Optikerfirma entwickelte Projektionsmikroskop.
• als Anstoß zur Entwicklung neuer Produkte, wie die Forschungen von Karl Auer von Welsbach zu den seltenen Erden zeigen. Er entdeckte ein Gaslicht mit besonders hoher Wirkungskraft. Sein Weg vom Labor zur industriellen Fertigung von Gasglühstrümpfen in der Fabrik in Wien-Atzgersdorf erforderte Kompetenz und Kooperationen im wissenschaftlichen Bereich sowie Risikobereitschaft und stabile Netzwerke im wirtschaftlichen Bereich.

Spitzenforschung und wirtschaftliche Anwendung

Heutige Spitzenforschung findet immer häufiger den Weg in wirtschaftliche Anwendungen. Maßgeblich dafür sind Anreizsysteme auf nationaler und europäischer Ebene und die Unterstützung dieser Start Ups durch spezialisierte Servicestellen, wie dem INITS, das gemeinsam von der Universität Wien, der Technischen Universität Wien und der Wirtschaftsagentur Wien seit 2002 betrieben wird. Die vom INITS bereitgestellten Experten garantieren nicht den Erfolg einer wirtschaftlichen Nutzung von wissenschaftlichen Innovationen; sie reduzieren allerdings das Risiko und fördern dadurch den Schritt in die Selbständigkeit.

Die Übersetzung von Forschung

Die Übersetzung von wissenschaftlicher Forschung in andere Referenzsysteme beschränkte sich nicht auf den wirtschaftlichen Bereich. Die Spitzenforschung der Wiener Universität war für staatliche Stellen ein ebenso wichtiger Partner wie für politische Programme zur Sozialreform bzw. zum Social Engineering. Diese Übersetzung trat in mehr als nur einer Gestalt auf. Sie zeigte sich erstens im Beirätewesen, das wissenschaftliche Experten in die Planung von neuen gesellschafts-, wirtschafts- und kulturpolitischen Initiativen einband. Beiräte fanden sich in verschiedensten Bereichen – vom Archivwesen über Sanitätsfragen bis hin zur Bekämpfung der Reblaus, bei der Pferdezucht ebenso wie bei der Versicherung und der Förderung von Industrie und Landwirtschaft.


Die Universität Wien feiert 2015 ihr 650-Jahre-Jubiläum. Auch im Sommersemester 2015 bieten die HistorikerInnen Marianne Klemun und Martin Scheutz die bereits im Wintersemester erfolgreich abgehaltene Jubiläums-Ringvorlesung "Die Wiener Universität 1365-2015" an. Termine der Jubiläums-Ringvorlesung im Sommersemester 2015



Die Übersetzung drückte sich zweitens in der Nutzung von Wissenschaftern – und in späterer Folge auch von Wissenschafterinnen – für die  Erstellung von Gutachten aus. Dabei griff die Verwaltung auf ein spezialisiertes Fachwissen zurück, um Entscheidungen in einzelnen Fällen treffen zu können, wie im Fall der Gerichtsmedizin, der forensischen Psychiatrie und der anthropologischen wie rassenbiologischen Gutachten der NS-Zeit. Forschungseinrichtungen, die direkt die Nachfrage von Politik und Verwaltung bedienten, standen für eine dritte Form der Übersetzung. Hier gingen fachwissenschaftliche Forschung und Mitwirkung an gesellschaftspolitischen Reformprojekten eine neue Art der Verbindung ein, wie das Beispiel des Psychologischen Institutes belegt.

Gegründet 1922 unter der Leitung von Karl Bühler, dem neu berufenen Ordinarius für Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Psychologie und Pädagogik entwickelte es sich rasch zu einer jener Einrichtungen, die neue Forschungen und Debatten der Humanwissenschaften und ihre Technologien durch die Zusammenarbeit mit dem Roten Wien in der Gesellschaft verankerten:

1. verschaffte die Zusammenarbeit mit dem Forschungsinstitut und seinem Leitungsteam der Schulreform wissenschaftliche Legitimation.
2. stellte Karl Bühler direkt verwertbares Know-How zur Verfügung, wie etwa in Vorträgen über Persönlichkeitstheorien – diese Art des Inputs entsprach eher dem Engagement des Beirates.
3. lässt sich eine direkte Beziehung zwischen Forschung und der Nachfrage seitens der Schulreform bei der Auseinandersetzung mit den Lesegewohnheiten von Schülerinnen und Schülern feststellen. Charlotte Bühler brachte ihre umfassende empirische Studie zu Lesepräferenzen in die Entwicklung des 'Wiener Leseplans' einbringen.
4. wurden spezialisierte Testbatterien – der bekannten Wiener Entwicklungstest – als Basis für Gutachten über Kinder entwickelt, die in die Kinderübernahmestelle aufgenommen wurden. Diese Einrichtung war als panoptische Struktur konzipiert, um dem Personal dauernde Aufsicht und Kontrolle über die Kinder zu ermöglichen. Eine solche – nicht an den Bedürfnissen der Kinder orientierte – Organisation des Raums kam der experimentellen wissenschaftlichen Forschung entgegen: Kinder allen Alters konnten durch die Glaswände zum Gang einer dauernden, systematischen Beobachtung unterworfen werden. Von einer solchen Forschung profitierten Forscher wie Sozialreformer, die ihre Organisation effizienter gestalten konnten.


Am Psychologischen Institut wurden spezialisierte Testbatterien – der bekannten Wiener Entwicklungstest – als Basis für Gutachten über Kinder entwickelt, die in die Kinderübernahmestelle aufgenommen wurden.



Die Universität Wien spielt auch weiterhin eine wichtige Rolle als Impulsgeber für gesellschafts- und wirtschaftspolitische Debatten. Mit dem neuen Entwicklungsplan wird die Bedeutung dieses Engagements gewürdigt und das Wirken der Universität in der Gesellschaft als eigener Schwerpunkt definiert. Wünschenswert wäre die Schaffung von ähnlichen 'Wissenstransferzentren' für den gesellschaftspolitischen Bereich, wie sie bereits für die Übersetzung von Grundlagenforschung in wirtschaftliche Anwendungen bestehen.

Peter Becker ist Professor am Institut für Geschichte der Universität Wien und stellvertretender Vorstand des Instituts.