"Unterschiedlichkeit ist Urbanität"

Was braucht die Stadt Wien, um aus der anhaltenden "Flüchtlingskrise" eine Chance zu machen? Einen flexiblen, leistbaren Wohnungsmarkt, Integration schon im Kindergarten und Jobs für Pflichtschulabgänger – sagen die StadtgeographInnen Yvonne Franz und Ramon Bauer im Gespräch mit uni:view.

uniview: Steht die Stadt Wien in den nächsten Jahren durch die Flüchtlingsthematik vor besonderen Herausforderungen?
Yvonne Franz: Ich sehe die größten Herausforderungen in vier Bereichen: Schul- bzw. Ausbildung, damit einhergehend Arbeitsmarkt sowie Wohnen und Integration. Z.B. fallen jugendliche Flüchtlinge über 16 aus dem System, da zum einen ihr Schulabschluss oft nicht anerkannt wird, sie andererseits in Österreich nicht mehr schulpflichtig sind.

Ramon Bauer:
Ein wichtiger Punkt ist auch, wie die Qualifikationen der Flüchtenden festgestellt, anerkannt und so weit gefördert werden können, um die Integration in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Laut AMS verfügen 40 Prozent der gemeldeten Asylberechtigten offiziell nur über einen Pflichtschulabschluss, obgleich sie eventuell mehr Qualifikation mitbringen. Das liegt auch daran, dass es in anderen Ländern kein duales Bildungssystem gibt wie bei uns. Wenn ich in Syrien Tischler war, habe ich dem Meister zugeschaut, mein Metier gelernt und vielleicht auch schon mehrere Jahre Arbeitspraxis. Hier werde ich trotzdem auf den Pflichtschulabschluss herabgestuft und dann nimmt mich kein Betrieb auf.

uni:view: Und wie schaut es im Bereich Wohnen aus?

Bauer: Da gibt es zum einen ein quantitatives Problem: Der öffentliche Wohnbau liegt in Wien bei 7.000 neuen Wohnungen pro Jahr. Bei durchschnittlich zwei Personen in einer Wohnung deckt das 14.000-15.000 neue EinwohnerInnen ab. Es gibt aber Zuwanderungsgewinne von 25.000 bis 30.000, Tendenz steigend, wobei die aktuellen Asylzahlen noch nicht eingerechnet sind. Wenn Österreich 50.000 anerkannte Flüchtlinge im Jahr 2015 und vielleicht auch in den nächsten Jahren haben wird, kommt davon knapp die Hälfte nach Wien. Momentan sind das noch mehrheitlich junge Männer, die vorausgeschickt werden, später wäre dann noch die Familienzusammenführung einzukalkulieren. Das sich ergebende Defizit kann zurzeit definitiv nicht vom privaten Wohnungsmarkt gedeckt werden.

Franz: Dazu kommt ein qualitatives Problem: Wir brauchen leistbare Wohnungen, denn Wien hat ein Defizit an privaten Substandard-Wohnungen, die man von Mindestsicherung oder niedrig bezahlten Jobs finanzieren kann. Leistbaren Wohnraum findet man sonst nur im sozialen Wohnbausektor, also Gemeindebau oder Genossenschaft. Zugang dazu besteht nach zwei Jahren Hauptwohnsitz in Wien – und auch dann sind meist Wartezeiten von mehreren Jahren einzuberechnen.

Jedes Semester stellt die Universität Wien ihren WissenschafterInnen eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. In Interviews und Gastbeiträgen liefern die ForscherInnen vielfältige Blickwinkel und Lösungsvorschläge aus ihrem jeweiligen Fachbereich. Zur Semesterfrage 2016

uni:view: Welche Maßnahmen könnte die Stadt Wien hierbei treffen?
Bauer: Wir sind in einer Emergency-Situation, um möglichst viele Wohnungen möglichst schnell zur Verfügung zu stellen. Insofern muss man wahrscheinlich gewisse qualitative Basisabstriche machen. Wir reden hier – um ein konkrete Beispiele zu nennen – von Containerstädten oder Holzbauweisen, die bei recht geringen Kosten gewisse Grundqualitäten bieten, bedarfsorientiert sind und sich innerhalb kürzester Zeit aufstellen lassen.

Franz: Das langfristige Ziel ist ja auch, dass es zu einer sozialen Integration kommt. Die ZuwanderInnen müssen zuerst einmal an einem Ort ankommen können, wo dann ihre Qualifikationen anerkannt und sie anschließend hoffentlich in den Arbeitsmarkt eingegliedert werden. Ein Job ermöglicht einen leichten Aufstieg und der oder die Asylberechtigte kann sich dann auch am freien oder sozialen Marktsegment eine Wohnung suchen, sodass die Familie nachziehen kann. Wir haben mit einer starken, neuen Dynamik zu rechnen, die sicher nicht im gehobenen Wohnungsmarktsektor stattfindet.

uni:view: Provokante Frage: Kapazitäten, sind sie da? Ist es möglich?
Franz: Ich glaube, man darf nicht mit der Beschränkung in die Fragestellung hineingehen, sondern es MUSS einfach möglich sein. Notsituationen schaffen auch immer Raum für Kreativität, gewisse Normen, Zwänge und Regulierungen über Bord zu werfen oder zumindest aufzuweichen. Ein ganz konkreter Vorschlag für Wien wäre: Jeglicher Bauträger – ob nun genossenschaftlich oder privat – ächzt unter der Wiener Bauordnung und den Regularien – etwa, dass jede Wohnung rollstuhlgerecht sein muss. Auch in Bezug auf die Bauflächenmobilisierung muss man kreativer werden. Wir haben Aktivierungspotenzial im Bereich der Leerstände: ehemalige Gewerbenutzungen, Bürogebäude, leerstehende Kasernen oder Zollhäuser ...  

uniview: Das Thema Integration haben wir bis jetzt noch nicht angesprochen. Wo kann bzw. sollte die Stadt Wien Ihrer Meinung nach in diesem Bereich ansetzen?

Bauer: Die Stadt Wien kann viel auf der Stadtteilebene erreichen. Eines der wichtigsten Instrumente ist der beitragsfreie Kindergarten mit seinen positiven Nebenerscheinungen wie Spracherwerb: Die Familien interagieren miteinander, lernen sich kennen, es findet Integration über die Kinder statt. Auch die Volksschulen sind wichtige Integrationsmotoren, denn dort haben mehr als 50 Prozent der Kinder eine Mutter mit nichtdeutscher Muttersprache, d.h. die Diversität ist hier noch viel deutlicher als in anderen Bevölkerungs- oder Altersgruppen.

Franz: Die Stadt setzt aber auch bereits sehr viele andere Dinge um: Es gibt beispielsweise die Gebietsbetreuungen, die auch immer mehr zu sozialen Begleitern werden. Sie bekommen mit, wo Konflikte entstehen oder wo bestimmte Gruppen mit ihren Problemen nicht gehört werden, sie setzen Maßnahmen wie Sprach- oder Kochkurse, Stadtteilspaziergänge bis hin zu Community-Zentren. Räume, in denen sich Leute aus der Nachbarschaft treffen können und die niederschwellig erreichbar sind.


"Wien ist mit knapp 20 Prozent der österreichischen Bevölkerung Heimat von fast 40 Prozent der internationalen Zuwanderer, die seit den späten 1980er Jahren das Wachstum prägt. Ein Drittel der Wiener Bevölkerung hat nicht Österreich als Geburtsland und knapp ein Viertel nicht die österreichische Staatsbürgerschaft. Insofern ist Wien sicher auch der Motor, wenn es um Integrationsmaßnahmen in Österreich geht", sagt Ramon Bauer. Die von ihm und Mitautoren erstellte Infografik zeigt die religiöse und ethnische Zusammensetzung Wiens zwischen 1970 und 2011, die sich von einer katholisch-österreichischen Dominanz zu einer diversen urbanen Gesellschaft verändert hat.

uniview: Greift das? Kann so ein Mehr an "sozialer Durchmischung" erreicht werden?
Bauer: Wenn man sich die demographischen Daten und Zahlen anschaut, ist in Wien aufgrund der kleinräumigen Bevölkerungsverteilung zumindest ein großes Potenzial für Durchmischung da.

Franz: Man kann zwar versuchen, soziale Mischung und Durchmischung auf einer strategisch-planerischen Ebene zu erreichen. Das tatsächliche Miteinander ist aber nicht so einfach zu regulieren. Hier gibt es enormen Nachholbedarf, denn eigentlich – wenn wir jetzt einmal von der Flüchtlingsthematik absehen – haben wir momentan so etwas wie ein nahezu konfliktfreies Nebeneinander. Maßnahmen wie der beitragsfreie Kindergarten kosten zwar viel, aber sie schaffen die Basis, in Kontakt zu kommen und ein friedvolles Nebeneinander zu ermöglichen. Man darf als Stadt nicht Gefahr laufen zu sagen, wir kürzen die Subventionen, weil die Leute ohnehin nicht miteinander reden, denn damit unterstützt man eine komplette Isolierung im Alltagsleben.  

uni:view: Kann die Stadt Wien etwas tun, um von einem Nebeneinander zu einem Miteinander zu kommen?  

Franz: Erzwingen darf man das grundsätzlich nicht und auch nicht dieses sozial-romantische Ideal verfolgen, dass sich alle gern haben müssen. In der Stadtverwaltung ist man der Meinung, dass Räume der Begegnung nur dann funktionieren, wenn sie konfliktfrei sind. Ich bin der Ansicht – und das zeigen auch unsere Analysen –, dass es Räume braucht, in denen es zu konstruktiven Konflikten kommen darf. Denn auch dazu ist der öffentliche Raum da.

uni:view: Sehen Sie noch weitere positive Effekte der Flüchtlingsbewegung für die Stadt?
Bauer: Wir sollten aus der Geschichte lernen: Es ist nicht die erste Flüchtlingswelle, eigentlich passiert so etwas alle 20 bis 30 Jahre. Im Nachhinein betrachtet hat das die Stadt Wien und Österreich jedes Mal nur gestärkt. Die ersten Jahre sind natürlich investitionsstark. Aber wenn es um die Bevölkerung geht, kann man nicht in Legislaturperioden, sondern muss in Generationen denken. Eine Generation etwa, nachdem die bosnischen Flüchtlinge zu uns gekommen sind, gelten diese bereits als hervorragend integriert. Außerdem verjüngt Zuwanderung – und da zählen natürlich auch Asylbewegungen dazu – unsere Gesellschaftsstruktur und vor allem die Stadt Wien.

Franz:
Wir sollten uns daran gewöhnen, dass die Unterschiedlichkeit das neue Normale in einer diversen Gesellschaft und in einer diversen Stadt wie Wien ist. Unterschiedlichkeit ist Urbanität. Und das ist vielmehr als Potenzial zu sehen anstatt als Hindernis.

uni:view: Danke für das Gespräch! (kb)

uni:view: Wie beantworten Sie unsere Semesterfrage "Wie verändert Migration Europa?"
Yvonne Franz: Migration verändert Europa in vielfältiger Hinsicht: Bevölkerungszusammensetzung, das soziale und kulturelle Miteinander, sozialstaatliche Versorgungspraktiken und vieles mehr. Genau diese Vielfalt gilt es anzunehmen, zu verstehen und zu analysieren, um zielgerichtete Anpassungen bestehender und über lange Zeit gewachsener Systeme vorzunehmen.

Ramon Bauer: Wie Migration in Zukunft Europa verändern wird, hängt davon ab, wie die Europäische Union mit Zuwanderung aus Nicht-EU-Ländern umgehen wird. Die Reise- und Niederlassungsfreiheit für EU-BürgerInnen führt dazu, dass Migration zwischen EU-Ländern verstärkt als interne Migration und damit tendenziell als Normalität wahrgenommen wird. Entscheidend wird sein, ob die EU eine gemeinsame Strategie finden wird, welche es ermöglicht Zuwanderung nach Europa nicht als Bedrohung sondern als Chance wahrzunehmen.

Dr. Yvonne Franz und Mag. Ramon Bauer forschen und lehren im Fachbereich Angewandte Geographie, Raumforschung und Raumordnung am Institut für Geographie und Regionalforschung der Fakultät für Geowissenschaften, Geographie und Astronomie der Universität Wien u.a. zu Urban Studies, Urbaner Diversität, Bevölkerungs- und Stadtgeographie sowie Migration und Integration.