Lässt der Klimawandel die Menschen wandern?
| 30. Juni 2016In seinem Gastbeitrag zur Semesterfrage beleuchtet Patrick Sakdapolrak, Professor für Bevölkerungsgeographie und Demographie an der Universität Wien, zukünftige Wanderungsbewegungen und Potenziale von Migration im Kontext des Klimawandels.
Unsere Vorstellungen über die Auswirkungen des Klimawandels auf Migration und Flucht sind geprägt von wiederkehrenden Erzählungen, Zahlen, Bildern, welche unser Bedürfnis nach Klarheit und Eindeutigkeit stillen. Die Thematik verlangt jedoch, dass wir uns auf die komplexen Zusammenhänge einlassen und alternative Erzählungen entwickeln, um nicht auf die Fallstricke dieser Vorstellungen hereinzufallen.
Verdorrte Felder, brennende Häuser, flüchtende Menschen
"How Climate Change is Behind the Surge of Migrants to Europe", fragte die Afrika-Korrespondentin des Times Magazine während des Höhepunktes der Wanderungsbewegung nach Europa Ende letzten Jahres. Zahlreiche MedienvertreterInnen, PolitikerInnen, Mitglieder der Zivilgesellschaft griffen diesen in einer Fachzeitschrift veröffentlichten Zusammenhang auf: Eine extreme Dürreperiode in Syrien führte zur massiven Abwanderung vom Land in die überlasteten Städte, dort brachen Konflikte auf, die schließlich im Bürgerkrieg mündeten und die Massenflucht nach Europa auslösten. Das syrische Beispiel – so viele KommentatorInnen – sei ein Vorgeschmack auf die zukünftige Massenwanderung und die humanitären Katastrophen im Zuge des Klimawandels.
Faktor Klima wird überbetont
Die scheinbar plausible Kausalkette zwischen klimatischen Veränderungen, Konflikten und menschlicher Mobilität ist eine populäre Erzählung, die zur Erklärung verschiedener Ereignisse immer wieder auftaucht. Viele Migration- und KonfliktforscherInnen weisen jedoch – speziell auch mit Bezug auf Syrien – darauf hin, dass sowohl Migration als auch gewaltsame Konflikte zu vielschichtig und multikausal sind, um auf eine derart vereinfachte Erklärung reduziert zu werden.
Die Gründe für die Land-Stadt-Wanderung und die rapide Urbanisierung in Syrien sind beispielsweise einerseits auf die wirtschaftliche Liberalisierung, den Wegfall von Subventionen, eine fehlgesteuerte Politik sowie andererseits auf die Bewältigung der Dürre zurückzuführen. Es gibt zudem weder einen Beleg dafür, dass es durch diese Land-Stadt-Wanderung zu Konflikten gekommen ist, noch, dass sich die in die Städte neu Zugezogenen signifikant an den Protesten beteiligt hätten.
Die Überbetonung des Faktors Klima ist irreführend und lenkt von den tatsächlichen unmittelbaren Ursachen ab, das gilt für Syrien und auch für andere Konfliktregionen.
"Migration verbindet entfernt liegende Orte und Menschen und intensiviert die Austauschbeziehungen zwischen diesen. Migration verändert dabei nicht nur unsere Gesellschaften – in ökonomischer, sozialer, politischer und kultureller Hinsicht –, sondern hat auch einen Einfluss auf die Herkunftsgesellschaften. Wir sollten die Handlungsspielräume nutzen, um diesen Prozess sowohl zum Wohle Europas als auch der Herkunftsregionen zu gestalten", so Patrick Sakdapolrak zur Semesterfrage.
Klimawandel und Migration: Was wir wissen
Fakt ist, dass sich der Klimawandel auf die zukünftige Wanderungsbewegungen auswirken wird. Das wird jedoch vor allem indirekt über ökonomische, soziale und politische Triebfedern passieren. Eine eindeutige Attribuierung von Wanderungsentscheidungen auf Umweltfaktoren ist aufgrund der Komplexität der Interaktionen sehr schwierig.
Empirische Evidenz weist darauf hin, dass seltene, extreme Ereignisse eher mit temporärer Migration über kurze Distanzen verbunden sind; schleichende, langanhalte Umweltveränderungen gehen dagegen eher mit längerfristiger Wanderungen über größere Distanzen einher.
Entscheidend für die Wanderung ist dabei nicht nur die Schwere des Ereignisses, sondern viel mehr der Grad der Betroffenheit, d.h. die Ressourcen und Möglichkeiten, die die Menschen besitzen, um mit den klimatischen Belastungen umzugehen. Gerade ärmere Bevölkerungsgruppen, die besonders von klimatischen Ereignissen betroffen sind, wandern eher über kurze Distanzen oder sind gar nicht in der Lage zu migrieren und zählen daher zu den sogenannten 'trapped populations'. Das ist auch ein Grund dafür, dass Umweltveränderungen kaum zu massenhafter internationaler Migration und Flucht führen.
Potenziale von Migration für Klimaanpassung nutzen
Wanderungsbewegungen werden im Kontext des Klimawandels vor allem negativ gesehen – als humanitäres Problem, als Sicherheitsrisiko etc. Die Migration wird aber auch zukünftig – unabhängig von den prognostizierten Klimaveränderungen – ein integraler Bestandteil der globalen Gesellschaft bleiben und daher sollten auch die ihr inhärenten Potentiale Beachtung finden. Migration verbindet Menschen in entfernt liegenden Orten, erleichtert die Übertragung von Wissen und Ressourcen und schafft so vernetzte und miteinander verbundene Räume.
Genau diese Potenziale der Migration müssen ein größeres Gewicht in der Klimaanpassungspolitik erhalten. Dazu ist es notwendig, geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen. Die Rückflüsse von Geld und Know-how durch MigrantInnen könnten beispielsweise in den Herkunftsregionen für einen besseren Umgang mit den Folgen des Klimawandels genützt werden.
Schutz der menschlichen Sicherheit
Wie soll mit jenen umgegangen werden, die aufgrund von klimatischen Ereignissen gezwungen wurden zu fliehen? Welcher Schutz soll ihnen gewährt werden? Ist eine Ausweitung der Genfer Flüchtlingskonvention anzustreben? Oder sollten neue völkerrechtlicher Mechanismen etabliert werden?
Aufgrund der Vielschichtigkeit der Migration wird es schwierig bis unmöglich bleiben, klimawandelbedingte Faktoren als Fluchtgrund zu isolieren, um jene Gruppen zu identifizieren, die einen besonderen Schutzstatus genießen sollten. Eine taxative Aufzählung von Fluchtgründen ist weder möglich noch sinnvoll. Bei den Erwägungen zur Schutzbedürftigkeit sollte stets die Frage nach dem Verlust der menschlichen Sicherheit im Zentrum stehen, und zwar ungeachtet dessen, ob dieser Verlust klimatische, wirtschaftliche oder politische Ursachen hat.
Diese politische und moralische Frage kann jedoch nicht wissenschaftlich, sondern nur in der gesellschaftlichen Debatte beantwortet werden.
Zum Autor:
Patrick Sakdapolrak ist seit Jänner 2016 Professor für Bevölkerungsgeographie und Demographie am Institut für Geographie und Regionalforschung der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind Verwundbarkeits- und Resilienzforschung, Mensch-Umwelt-Beziehungen, Geographische Migrationsforschung, Geographische Gesundheitsforschung, regionaler Schwerpunkt: Südasien, Südostasien und Ostafrika.