Geheimrecht Asylrecht?

Die EU steckt in einer Flüchtlingspolitikkrise. Welche Rolle dabei das Asylrecht spielt und was das österreichische Asylrecht zum "Geheimrecht" macht, erzählen die JuristInnen Magdalena Pöschl und Franz Merli im Interview zur Semesterfrage "Wie verändert Migration Europa?".

uni:view: Wie kommentieren Sie als JuristInnen die aktuelle Flüchtlingspolitikkrise?
Magdalena Pöschl: Durch die große Anzahl an AntragsstellerInnen wird die Leistungsfähigkeit des Asylrechts momentan in Frage gestellt und es zeigt sich, dass mit Recht nicht alles steuerbar ist. Je mehr wir uns mit dem Asylrecht beschäftigen, desto mehr werden wir uns seiner Defizite und Unzulänglichkeiten bewusst. Im Bereich Asyl ist das Recht überfordert.

uni:view: Welche Defizite sind das?
Franz Merli: Anders als bei "normalen" Verwaltungsverfahren ist die Kommunikation meist sehr schwierig, und wir können schlecht ermitteln, ob der Sachverhalt stimmt. Während in den meisten Rechtsverfahren die AntragstellerInnen so rasch wie möglich zum Ergebnis kommen wollen, gibt es im Fall des Asylrechts Gruppen, die an einem Hinauszögern interessiert sind.

Pöschl: Wer einen Asylantrag stellt, erhält nämlich ein vorläufiges Aufenthaltsrecht und Grundversorgung. Beides nimmt das Verfahrensergebnis ein Stück weit vorweg. Daher profitieren AsylwerberInnen von langen Verfahren umso mehr, je schlechter ihre Chancen auf Asyl sind. Bei sehr langer Verfahrensdauer kann sogar ein dauerhaftes humanitäres Aufenthaltsrecht entstehen. Das ist eine atypische Bedingung, die es nur im Asylrecht gibt.

uni:view: Was ist noch "typisch Asylrecht"?
Merli: Die riskante Entscheidung: Ein Negativ-Bescheid kann kaum mehr rückgängig gemacht werden, wobei es oftmals um Leben oder Tod geht. Die Entscheidung muss einerseits sehr schnell getroffen werden, ist aber gleichzeitig sehr schwierig – ein innerer Widerspruch, mit dem das Asylrecht kämpft.

Pöschl: Das Asylrecht ist auch sonst widersprüchlich. Einerseits soll jeder Mensch Asyl bekommen, wenn die entsprechenden Bedingungen vorliegen, und wir verlangen, dass der Asylantrag im Inland gestellt wird, weil nur hier Schutz gewährt werden kann. Andererseits schaffen wir keine legalen Möglichkeiten der Einreise und schicken die Leute damit zum Teil auf einen lebensgefährlichen Weg. Kaum ein anderes Rechtsgebiet ist derart emotionalisierend.

uni:view: Wie restriktiv ist das österreichische Asylrecht im Vergleich zu anderen europäischen Staaten?
Pöschl: Streng. Das österreichische Asylrecht ist sehr nahe am Fremdenpolizeirecht, obwohl es 1992 von den Sicherheitsbehörden an das eigens dafür geschaffene Bundesasylamt übergeben wurde. Die Begründung für die behördliche Trennung lautete: Die Fremdenpolizei wehrt Gefahren ab, während das Asylrecht Fremden Schutz gewährt. Seither kam es aber wieder stufenweise zu einer "Verpolizeilichung" des Asylrechts.

uni:view: Wie sind die "Obergrenzen" mit dem Asylrecht vereinbar?
Merli: Gar nicht. Es gibt bestimmte Voraussetzungen im Asylrecht. Wer diese erfüllt, muss als Flüchtling anerkannt werden oder subsidiären Schutz bekommen. Auf der anderen Seite sind Gesellschaften nur beschränkt aufnahmefähig. Aber das ist keine rechtliche Vorschrift, sondern eine Tatsache, die sich rechtlich so niederschlägt, dass man zwar an dem Asyl-Anspruch nicht wirklich rüttelt, aber trickreich allerlei Hindernisse einführt.

AsylwerberInnen sind Flüchtlinge, deren Asylverfahren noch nicht abgeschlossen ist. Asylberechtigte, Konventionsflüchtlinge oder anerkannte Flüchtlinge haben ein abgeschlossenes Asylverfahren hinter sich und wurden anerkannt im Sinne des Flüchtlingsbegriffes der Genfer Flüchtlingskonvention. Dieser Status beinhaltet ein dauerndes Einreise- und Aufenthaltsrecht in Österreich. Subsidiär Schutzberechtigte sind Personen, die nicht als Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konvention anerkannt werden, jedoch über eine befristete Aufenthaltsberechtigung verfügen, die verlängert werden kann.


uni:view: Wie lange dauern die Asylverfahren in Österreich durchschnittlich?

Pöschl:
Das hängt davon ab, aus welchem Staat jemand kommt – im Detail ist die Verfahrensdauer aber schwer herauszufinden. Überhaupt kommt man an Daten zum Asylvollzug in Österreich nur schwer ran, anders als in anderen EU-Staaten.

Merli:
Dabei wäre es so wichtig, diese Daten zu kennen. Wir könnten viele Fragen beantworten: Wie schnell kommen AsylwerberInnen in die Grundversorgung, also wann wird der Asylantrag grob genehmigt, und wie lange dauert das Asylverfahren ab diesem Zeitpunkt? Wie mühsam ist es für jene, denen Asyl zusteht, eines zu bekommen? Muss das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl oder müssen die Verwaltungsgerichte verbessert werden, um die Verfahren zu beschleunigen?

Pöschl:
Es herrscht ein systematisches Unwissen, das Raum für Spekulationen gibt. Oft wird AsylwerberInnen vorgeworfen, alles in die Länge zu ziehen. Anhand der Zahlen könnte man überprüfen, ob das stimmt und die Diskussion auch sonst rationalisieren und damit die extreme Emotionalisierung eindämmen.

uni:view: Sie organisieren 17. und 18. März eine Tagung zum Thema "Asylrecht als Experimentierfeld". Warum haben Sie den Titel gewählt?

Pöschl:
Im Asylrecht wird immer wieder Neues ausprobiert, oft an der Grenze des Zulässigen – und manchmal auch darüber hinaus. Pfeift der Verfassungsgerichtshof oder der europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Gesetzgebung zurück, werden rasch neue Regelungen erlassen, die die Grenzen ein weiteres Mal ausloten. Manchmal werden Probleme auch gelöst, indem man Vorschriften einfach uminterpretiert.

uni:view: Also ein sehr unübersichtlicher Rechtsbereich?

Pöschl:
Ja, weil sich Maßnahmen übereinander schachteln, zum Teil nicht mehr zusammenpassen, sich verdoppeln oder sich wechselseitig stören. Nur eine Handvoll hochspezialisierter PraktikerInnen kennt sich in dem Rechtsgebiet noch aus, und nur sehr wenige WissenschafterInnen beschäftigen sich damit – es ist beinahe ein "Geheimrecht". Wenn sich ein Rechtsgebiet durch einen derartigen Experimentiercharakter immer mehr von der Wissenschaft abschottet, ist das ein hochproblematischer Zustand.

Merli:
Die politische Aufladung verlangt nach Aktionismus, es muss immer was geschehen: Etwas Bestehendes wird umbenannt, zusammengefasst oder "intensiviert". Aus juristischer Sich sind es "leere Kilometer", aus politischer Sicht ist es ein Nachweis, dass sich die PolitikerInnen des Problems annehmen.  

uni:view: Und so entstehen dann Gesetzesnovellen wie das "Asyl auf Zeit"? 

Merli:
Ein typischer Fall von Politikwäsche: Sieht man sich die Erläuterungen zu diesem Gesetz an, erfährt man, dass nach drei Jahren einfach überprüft wird, ob die Fluchtgründe noch bestehen. Dafür braucht es kein "Asyl auf Zeit", das kann man auch nach geltendem Recht.

Pöschl:
Und im Windschatten dieses "Asyls auf Zeit" passiert etwas, das in den Medien wenig Beachtung findet, dafür aber umso schwerer wiegende Konsequenzen hat: Der Familiennachzug wird stark begrenzt.

Jedes Semester stellt die Universität Wien ihren WissenschafterInnen eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. In Interviews und Gastbeiträgen liefern die ForscherInnen vielfältige Blickwinkel und Lösungsvorschläge aus ihrem jeweiligen Fachbereich. Zur Semesterfrage 2016

uni:view: Ein anderes Beispiel ist das Neuerungsverbot: Nach der Erstbefragung dürfen AsylwerberInnen keine weiteren Fakten mehr "nachreichen". Hat das die Verfahren verkürzt?
Pöschl: Nein. Mit der Frage, ob man den AsylwerberInnen einfach das Wort verbieten kann, kam der Verfassungsgerichtshof ins Spiel. Er interpretierte die Regelung verfassungskonform und sagte: Ein Neuerungsverbot ist möglich, aber nur unter bestimmten Voraussetzungen. Zu prüfen, ob diese Voraussetzungen vorliegen, ist für die Behörde aber sehr aufwändig. Da ist es leichter, das neue Vorbringen von Fakten einfach zuzulassen und darzulegen, warum es unglaubwürdig ist.

uni:view: Ihr "Lösungsvorschlag"?
Pöschl: Ein einheitlicher Vollzug durch eine europaweit tätige Behörde wäre gefragt – die Rechtsvorschriften für Asylverfahren, die Versorgung sowie die Gründe, warum Asyl gewährt werden muss, sind ja bereits sehr stark harmonisiert.

Merli: Das setzt aber eine europäische Zusammenarbeit voraus, und die gestaltet sich schwierig. Wenn man die Aufteilung nach Quoten erreicht, würde das bedeuten, dass die EU "von oben" bestimmt, mit wem die Menschen zusammenleben müssen. Viele sehen dadurch ihre eigene Lebensweise in Gefahr – das ist eine heikle Geschichte.



uni:view: Womit wir bei der Semesterfrage wären: Wie verändert Migration Europa?

Merli: Migration löst einen langen und intensiv diskutierten gesellschaftlichen Prozess aus, der keine Abkürzungen erlaubt. Auch in den "klassischen Einwanderungsländern" gab es in Hinblick auf Migration immer wieder Phasen von Rebellion, denn Migration verändert das Leben der ansässigen Bevölkerung. Auch für Europa wird es keine einfache Lösung geben.

Pöschl: Migration ist für eine Gesellschaft immer eine Herausforderung, denn MigrantInnen erscheinen als "die Anderen" und stellen uns damit vor die Frage, wer wir eigentlich sind. Damit trifft die Migration aber einen wunden Punkt der Union: Gibt es überhaupt eine europäische Identität und wie sieht sie aus? Finden wir dieses verbindende Element, werden wir die Herausforderung meistern – sonst wird es schwierig. Wir stehen sozusagen vor einer Nagelprobe.

uni:view: Vielen Dank für das Gespräch! (ps)

Magdalena Pöschl wird am 1. und 8. Juni auf "derStandard.at" erklären, warum Migration nicht nur die Bevölkerung, sondern auch Rechtsordnungen unter Stress setzt, wie das Recht darauf reagiert und wo es an seine Grenzen stößt. In einem Kommentar sowie einem Q&A-Artikel stellt sie sich den Fragen der Community. Diskutieren Sie mit!