"Es ist Zeit für eine nüchterne Debatte"
| 23. Juni 2016In politischen und medialen Debatten werden Flucht und Terrorismus oft vermischt und nicht selten Bilder von Krise und akuter Bedrohungslage bemüht. Jihadismus-Experte Rüdiger Lohlker plädiert im Interview zur Semesterfrage für einen offenen, aber realistischen Diskurs in der Gesellschaft.
uniview: Herr Lohlker, wie verändert Migration Europa?
Rüdiger Lohlker: Angesichts der derzeitigen Entwicklungen halte ich zwei mögliche Richtungen für denkbar: Europa könnte an der Migrationsfrage zerbrechen – wir sehen ja, dass sich einige Länder abschotten und andere dagegen noch Flüchtende aufnehmen. Genauso kann Europa aber auch profitieren – ökonomisch, demographisch und von der kulturellen Bereicherung.
Jedes Semester stellt die Universität Wien ihren WissenschafterInnen eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. In Interviews und Gastbeiträgen liefern die ForscherInnen vielfältige Blickwinkel und Lösungsvorschläge aus ihrem jeweiligen Fachbereich. Zur Semesterfrage 2016
uniview: Was wäre zu tun, um die Entwicklung in eine gute Richtung zu lenken?
Lohlker: Wir müssen uns darüber bewusst werden, dass wir in einer sich radikal verändernden Welt leben – ob wir nun Mauern um uns errichten oder nicht. Das Wichtigste wäre eine nüchterne gesellschaftliche Debatte über die Stärken von Diversität und auch über Schwierigkeiten, beispielsweise in der Integration. Außerdem sind neue Forschungen notwendig: Wir wissen bisher kaum etwas über die Menschen, die zu uns kommen und die Probleme, vor denen sie stehen. Dazu ist es aber auch wichtig, den Geflüchteten selbst Gehör zu schenken.
uniview: Sie selbst sind Islamwissenschafter und Jihadismus-Experte. In manchen Medien wird in einem Atemzug mit der Flüchtlingsbewegung auch die Angst vor Terrorismus geschürt.
Lohlker: Ja, da werden ganz unterschiedliche Dinge vermischt. Wir wissen, dass terroristische Kräfte die Flüchtlingsbewegung genutzt haben, aber das heißt doch nicht, dass Geflüchtete TerroristInnen sind. Das ist ein Fehlschluss.
uniview: Um beim Thema Jihadismus und damit Ihrem Forschungsschwerpunkt zu bleiben: Nach den Anschlägen in Paris und Brüssel herrscht in Europa große Alarmbereitschaft. Hat sich die Gefahr denn in letzter Zeit tatsächlich erhöht?
Lohlker: Wir wissen seit Jahren von der Gefahr von Anschlägen. Es wird auch wieder Anschläge geben, denn die können weder in offenen noch in geschlossenen Gesellschaften ganz verhindert werden. Aber es gibt keinen Grund zur Panikmache. Das Autofahren ist statistisch gesehen in jedem europäischen Land gefährlicher.
uniview: Wenn man manchen Medien traut, wirkt die Gefahr ja geradezu allgegenwärtig.
Lohlker: Die Medien kolportieren immer wieder Meldungen darüber, was theoretisch möglich wäre: Strände könnten bedroht sein, Atomkraftwerke sowieso… Natürlich sollen SicherheitsexpertInnen potenzielle Gefahrenszenarien entwickeln, um vorbeugen zu können – aber ein verantwortungsvoller Journalismus sollte diese nicht nach außen geben. Damit fällt man in die Falle, die uns TerroristInnen gestellt haben. Sie wollen Angst erzeugen, das ist ein Zweck terroristischer Propaganda.
uniview: Was läuft denn falsch in der journalistischen Berichterstattung über den Jihadismus?
Lohlker: Wenn es eine Meldung oder eine neue Drohung im Internet gibt, denken JournalistInnen oft, dass sie diese auch bringen müssen – obwohl eine Drohung erst einmal gar nichts heißt. Es wird häufig nicht begriffen, wie die jihadistische Propaganda wirkt und wirken soll, während IS-JihadistInnen sehr genau wissen, wie die westlichen Medien funktionieren und dieses Wissen nutzen und gezielt Meldungen provozieren. Das führt zu fatalen Verstärkereffekten durch die öffentlichen Medien, die TerroristInnen in die Hände spielen. Letztlich starren dann alle wie das Kaninchen auf die Schlange.
uniview: Was hat sich überhaupt in den letzten Jahren verändert? Jihadistische Anschläge gibt es ja nicht erst seit dem IS oder 9/11.
Lohlker: Der IS ist eine sehr kohärente Bewegung, was sich auch in seiner Theologie ausdrückt. Die Terrororganisation hat darüber hinaus eine sehr moderne, visuell ausgerichtete Medienstrategie. Zudem kontrolliert der IS ein eigenes Territorium. All dies hat Al-Kaida nie geschafft. Zwar hatte Al-Kaida in Afghanistan und Nordwest-Pakistan eine territoriale Basis, diese war aber nie ganz unabhängig und sie ist im sogenannten "War on Terror" verloren gegangen. Letztlich ist der IS aber selbst ein Produkt des "War on Terror", ein Erfolgsmodell war dieser auf keinen Fall.
uniview: Was macht die IS-Propaganda inhaltlich aus?
Lohlker: Der IS ist in erster Linie arabisch geprägt. Daher sind die Anschläge in Europa im Endeffekt für die Propaganda von keiner großen Bedeutung – ob uns in Europa das gefallen mag oder nicht. Im Projekt "Vienna Observatory for Applied Research on Terrorism and Extremism" (Vortex) haben wir uns eine Stichprobe eines arabischsprachigen Telegram-Kanals genauer anschaut. Über einen Zeitraum von zwei Wochen gab es ca. 54.000 Posts, also im Internet veröffentlichte Bilder, Videos, Texte etc. Nur zehn davon bezogen sich auf die Anschläge in Brüssel. Der IS hat einen riesigen Propaganda-Output vor allem in arabischer Sprache, und Geschehnisse etwa in Mossul sind gegenüber jenen in Europa dann schnell wichtiger.
uniview: Angesichts der Berichterstattung und der politischen Debatten ist das überraschend.
Lohlker: Ja. JournalistInnen nehmen oft das Material, das ihnen auf Deutsch, Englisch oder Französisch zur Verfügung steht und das ist nur ein geringer Teil. Die Politik in Europa wiederum konzentriert sich auf europäische Probleme. Aber wenn wir das Problem an der Wurzel packen wollen, dann brauchen wir einen anderen Blickwinkel und der muss global sein. Dazu gehört auch die Besetzung von Sicherheitsinstitutionen oder der Forschung: In den Nachrichtendiensten, im Militär, in der Terrorismusforschung gibt es nur wenige, die überhaupt arabisch sprechen. Außerdem hat für viele Jahre keine effektive europäische Koordination im Sicherheitsbereich stattgefunden. Hier gibt es Nachholbedarf.
uniview: Um ein Gegengewicht zur IS-Propaganda bemüht sich das Projekt "VORTEX" an der Universität Wien, dessen Leiter Sie sind. Wie gehen Sie vor?
Lohlker: In Zusammenarbeit mit indonesischen Islam-Gelehrten stellen wir Videos ins Internet, die arabischsprachig sind und eine aus theologischer Sicht legitime Alternative anbieten können. Damit schaffen wir eine Konkurrenzsituation zu den Medien des IS, die den Kern ihrer Propaganda, die islamische Legitimation, ernst nimmt und über die arabische Sprache global Muslime ansprechen kann. Daran sind viele bisherige Versuche, Gegenerzählungen zu lancieren, gescheitert. Über Tracking-Verfahren verfolgen wir, wie und wo die Videos angenommen werden. Den Erfolg dieser Strategie werden wir evaluieren.
uniview: Herr Lohlker, viel Erfolg für Ihr Projekt und vielen Dank für das Gespräch. (jr)
Univ.-Prof. Mag. Dr. Rüdiger Lohlker ist Professor für Islamwissenschaften am Institut für Orientalistik der Universität Wien und Leiter des Projekts "Vienna Observatory for Applied Research on Terrorism and Extremism" (VORTEX). Am Projekt VORTEX sind seine Mitarbeiter Mag. Dr. Nico Prucha, Fellow am International Centre for the Study of Radicalisation and Political Violence (ICSR) in London und Ali Fischer, Fellow am USC Center on Public Diplomacy, University of Southern California sowie die LibForAll-Foundation in Indonesien beteiligt.