"Die Rückkehrer veränderten Europa"

Einwanderung ist das Thema der Stunde. Aber Europa war lange Zeit ein Auswanderungskontinent. Annemarie Steidl, Expertin für Migrationsgeschichte an der Universität Wien, beleuchtet in ihrem Gastbeitrag zur Semesterfrage die europäische Überseewanderung im langen 19. Jhdt. und ihre Auswirkungen.

Die aktuelle Zuwanderung von Flüchtlingen und ArbeitsmigrantInnen ist eine der größten Herausforderungen für europäische Gesellschaften des 21. Jahrhunderts. Dass Europa nicht immer von Einwanderung geprägt war, zeigt ein Blick zurück in vergangene Jahrhunderte:

Bis zu 60 Millionen Menschen haben im "langen 19. Jahrhundert" ihre Dörfer und Städte in Richtung Übersee verlassen. Die Vereinigten Staaten von Amerika waren neben Kanada, Brasilien oder Argentinien für die meisten das erträumte Ziel. Zwischen 1890 und 1914 kamen etwa 15 Millionen EuropäerInnen in Ellis Island im Hafen von New York an, über 20 Prozent von ihnen waren in Österreich-Ungarn geboren. (Anm.: Unter dem "langen 19. Jahrhundert" versteht man nach Eric Hobsbawm die Phase von 1789 bis 1914.)

"Little Burgenland" in Chicago

Der Bedarf an Arbeitskräften der boomenden amerikanischen Wirtschaft war enorm und bot Menschen aller sozialen Schichten ein gutes Auskommen. Neben der Landwirtschaft fanden junge Männer lukrative Jobs in der Schwerindustrie, im Eisenbahnbau oder in Bergwerken. Städte wie New York oder Detroit wuchsen, nicht zuletzt aufgrund der Zuwanderung, mit unglaublicher Geschwindigkeit.

Chicago, das im frühen 20. Jahrhundert zur größten Ansiedlung von BurgenländerInnen wurde, hatte 1860 lediglich 100.000 EinwohnerInnen; bis 1910 waren sie auf über zwei Millionen angewachsen. Junge Frauen aus Europa arbeiteten als Dienstbotinnen oder im Textilgewerbe, in sogenannten Sweatshops, in den Städten der Ostküste. Vielen von ihnen fanden in Amerika einen Ehepartner und gründeten Familien.

50 Millionen Briefe aus Übersee

Der Eisenbahnbau in vielen Regionen Europas und riesige Dampfschiffe, die über tausend Passagieren Platz boten, sorgten für eine schnelle und erschwingliche Überfahrt. Politische Liberalisierung und Demokratisierung in vielen Ländern Europas sowie der globale Handel schufen ein Klima, das es mehr und mehr Menschen ermöglichte sich auf den Weg zu machen. Aufgrund der steigenden Schulbildung verbreiteten sich Nachrichten über Lebens- und Arbeitsbedingungen in den USA schnell.

Fast 50 Millionen Briefe aus den USA erreichten Zentraleuropa um die Jahrhundertwende. Welche Arbeitskräfte wurden gesucht? Wie hoch waren die Löhne? Wo gab es günstig Unterkunft? Wie erging es den Verwandten und Bekannten aus der Nachbarschaft in Amerika? Dieses Wissen erleichterte Entscheidungen für die eigene Migration.

"Menschen waren auf der Suche nach Arbeit zwischen Europa und den USA unterwegs. Aber auch politische Flüchtlinge fanden zur Mitte des 19. Jh. in den USA ein neues Zuhause. Migrationen schaffen Chancen – auch für jene, die im Heimatland verbleiben. Sie eröffnen neue Perspektiven sowohl für die Ausgangsgesellschaft, als auch für Gesellschaften in den Zielregionen. Die Geschichte Europas ist die Geschichte vielfältiger Wanderungen", beantwortet Annemarie Steidl die Semesterfrage 2016.

Migration ist keine Einbahnstraße

Auch vor unserer modernen Welt mit Flugzeugen und Hochgeschwindigkeitszügen waren Wanderrichtungen niemals Einbahnstraßen. Nicht alle MigrantInnen ließen sich dauerhaft in Amerika nieder. Schiffe verkehrten regelmäßig und die Zahl derer, die nur für eine paar Jahre oder auch Monate in den USA arbeiteten, um möglichst schnell Geld zu verdienen, stieg.

Das angesparte Vermögen wurde nach der Rückkehr in Europa investiert. Mehr als die Hälfte der in die USA Gewanderten kehrte nach Süditalien zurück, und nicht viele weniger entschieden sich für eine Rückkehr nach Österreich-Ungarn.

Rückkehr mit neuen Ideen im Gepäck

Gründe für die Rückkehr gab es viele. Manch eine/r erreichte Europa mit leeren Taschen, ruinierter Gesundheit und zerstörten Illusionen. Viele konnten sich jedoch ihr erträumtes Ziel erfüllen, sendeten Geld an ihre Familien in Europa oder kauften sich nach der Rückkehr ein Stück Land und bauten ein Haus. Von 1900 bis 1906 wurden allein über New Yorker Postämter an die 240 Millionen Dollar in alle Länder Europas transferiert. Die Gesellschaften vieler europäischer Länder profitierten von diesen Geldsendungen.

Die Rückkehrer veränderten Europa. Sie verfügten über neues technisches Wissen und trugen mit fortschrittlichen sozialen und politischen Ideen zur Modernisierung bei. Die Ziele mobiler EuropäerInnen früherer Jahrhunderte unterschieden sich kaum von denen der ArbeitsmigrantInnen, die in den 1960er und 1970er Jahren aus dem Süden Europas, aus der Türkei oder Algerien in den Norden wanderten. Mit ihrer Arbeitskraft trugen sie zum Aufbau moderner Industrienationen bei. Nach ihrer Rückkehr veränderten sie mit neuen Ideen und finanziellen Mittel ihre Herkunftsländer.

Die Autorin:
Annemarie Steidl ist assoziierte Professorin am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen u.a. die Historische Migrationsforschung, Industrialisierung und Urbanisierung sowie Handwerksgeschichte.