Mit Charme und Chanson

"Mon amour, mon ami" – mit unschuldigem Augenaufschlag trillert die junge Schauspielerin Virginie Ledoyen in die Kamera. Renaud Lagabrielle vom Institut für Romanistik untersucht in seinem Habilitationsprojekt den französischen Musikfilm – doch was verbirgt sich eigentlich dahinter?

"Der Begriff 'französischer Musikfilm' ist viel zu weit gefasst, ich möchte ihn eingrenzen", schickt Renaud Lagabrielle voraus. Dazu untersucht er 17 französische Filme, die nach 1997 entstanden sind und alle eines gemeinsam haben: Das gesungene Wort fügt sich auf natürliche Art und Weise in die Erzählung ein.

In François Ozons Filmkomödie "8 Frauen" beispielsweise offenbart Suzon ihrer Mutter, dass sie ein Kind erwartet. Als diese mit Entsetzen reagiert, zieht sich die frustrierte Studentin in ihr Zimmer zurück und stimmt "Mon amour, mon ami" an. Die Ode an den fernen Geliebten bescherte der Chansonnette Marie Laforêt bereits 1967 einen Hit; durch die niedergeschmetterte Suzon interpretiert, spricht das Lied für sich selbst.

"Der Gesang erfüllt im französischen Musikfilm eine narrative Funktion", erklärt Renaud Lagabrielle, der am Institut für Romanistik der Universität Wien forscht: "Er hebt sich so von den klassischen Musikformaten aus Hollywood oder Indien ab, in denen der Gesang inszeniert und zum Teil von der Handlung isoliert wird. Um die Musikfilme Frankreichs abzugrenzen, verwende ich in meiner Forschung den Begriff 'film en chanté'."

Musikfilm als Genre?

Renaud Lagabrielle nimmt für sein Projekt, das er im Rahmen des ÖAW-Programms APART durchführt, prominente sowie weniger bekannte VertreterInnen des französischen Kinos in den Blick. Sein Korpus enthält Filme von Alain Resnais "Das Leben ist ein Chanson" bis hin zu Christophe Honorés "Die Liebenden". Diese Werke werden jedoch häufig nicht als ein Genre – dem  "film en chanté" – wahrgenommen, was am Zugang der französischen Filmwissenschaft liegt: "Die Studien zum französischen Film sind häufig auf den oder die RegisseurIn fokussiert, nur selten werden Filme durch genrespezifische Fragestellungen gedacht und analysiert", erklärt Lagabrielle.

Der junge Forscher möchte mit dieser Tradition brechen und den "film en chanté" als eigenständiges Genre etablieren. Die geplante Habilitationsschrift des Wissenschafters wäre damit auch die erste Monographie, die sich "dem französischen Musikfilm" widmet. Um dieses Desiderat in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Film zu schließen, setzt sich Lagabrielle einerseits mit dem Begriff des Genres auseinander, andererseits analysiert er Filme sowie deren Pressetexte – und natürlich die Chansons. "Chansons haben in der französischen Tradition eine besondere Bedeutung, sie verleihen den Filmen eine gewisse Nostalgie", erklärt der gebürtige Bretone, der seit 2001 an der Universität Wien ist.


Christophe Honoré macht den "film en chanté" wieder populär. Sein Drama "Die Liebenden" aus dem Jahr 2011 feierte auch in Österreich große Erfolge und deklariert eine neue Ära des Musikfilms. "Mir gefällt die Art und Weise, wie Honoré auf verschiedenen Ebenen den Genrebegriff ausverhandelt: Sagnier erinnert durch ihren Look an die junge Catherine Deneuve, die in 'films en chanté' ihre Karriere begann. Das ist eine Anspielung an die alten Musikfilme der 1960er", so Lagabrielle.



Ein echter Ohrwurm

Die Chansons im Filmdrama "Die Liebenden" haben es dem Romanisten besonders angetan: Der Film beginnt mit Ludivine Sagniers Interpretation "Je peux vivre sans toi" (Ich kann ohne dich leben) und endet mit "Je ne peux vivre sans t'aimer" (Ich kann nicht leben ohne dich zu lieben), gesungen von der preisgekrönten Catherine Deneuve. "Während Ludivine Sagnier noch mit großem Enthusiasmus schmettert, ist das letzte Chanson von drückender Melancholie geprägt", sagt der Forscher.

Die Liedtexte selbst variieren kaum und drücken ihm zufolge eine der grundlegenden Ideen des Films aus: Die Zeit vergeht, die Liebe bleibt. "Außerdem sind diese Chansons echte Ohrwürmer – ein Wort, für das es auf Französisch keine Übersetzung gibt. Am ehesten vielleicht die vom Philosophen Peter Szendy übernommene Wortschöpfung 'Ver d'oreille'", erklärt Lagabrielle seine Faszination.

Forschung zwischen Wien und Paris

Für seine Arbeit durchforstet er Bibliotheken und Archive. "Ich komme gerade aus Paris zurück; die dortige Filmbibliothek ist eine 'malle aux trésors', eine Schatzkammer", schwärmt der Romanist. In seiner Forschung verbindet er kulturwissenschaftliche mit ästhetischen Forschungsaspekten. So stellt er zum Beispiel die filmische Konstruktion von Gender zur Diskussion und stößt auf interessante Zusammenhänge zwischen Form und Inhalt: "Einige der Filme versuchen, mit der traditionellen Darstellung von Geschlecht und Sexualität zu brechen. Das sind dann auch die Filme, die formal wesentlich spannender und innovativer sind", so der APART-Stipendiat über die ersten Ergebnisse seiner Untersuchung.

Renaud Lagabrielle ist 1997 im Rahmen eines Erasmus-Aufenthalts nach Österreich gekommen und geblieben. Er studierte Germanistik in Nantes und Graz und legte 2005 seine Promotion zur "Darstellung von Homosexualität im französischen Kinder- und Jugendroman" an der Universität Wien ab. Für sein Habilitationsprojekt verlagert er seinen bisher literaturwissenschaftlichen Forschungsschwerpunkt in Richtung Film. Denn der Romanist begeistert sich auch privat für das französische Kino und ist von einem überzeugt: "Nur mit Liebe zum Thema lässt sich erfolgreich forschen!" (hm)

Das Habilitationsprojekt "The French Musical Film. Genre, Love and Theatricality" von Dr. Renaud Lagabrielle vom Institut für Romanistik der Universität Wien läuft vom 1. März 2013 bis zum 29. Februar 2016 und wird mit dem APART [Austrian Programme for Advanced Technology]-Stipendium der Österreichischen Akademie der Wissenschaften gefördert.