Zwischen Italien und Habsburg: Wie Literatur Geschichte macht

650 Jahre italienische Literatur "Made in Austria": In mehrjähriger Forschungsarbeit haben die Romanisten Gualtiero Boaglio und Alfred Noe diese "vergessene" – weil nicht in die nationalen Denkmuster des 19. Jahrhunderts passende – Literaturgeschichte aufgearbeitet und die Ergebnisse publiziert.

Der Weg zum Institut für Romanistik führt unter dem Piccolomini-Tor am Campus der Universität Wien vorbei: Symbol für den Beginn der italienischen Präsenz in Österreich. Denn Enea Silvio Piccolominis "Euryalus und Lukrezia. Die Geschichte zweier Liebender" ist das erste Werk der italienischen Literatur, das in Wien verfasst wurde.


Das Piccolomini-Tor am Campus – zwischen Hof 7 und Hof 8 – zeugt von den Anfängen der italienischen Literatur rund um die Universität Wien. Der Humanist Enea Silvio Piccolomini (der spätere Papst Pius II) war unter Friedrich III Sekretär und hat im Jahr 1444 seine berühmteste Novelle verfasst.



"Meine Forschungsarbeit setzt aber bereits im 14. Jh. mit Francesco Petrarca – einem der wichtigsten Vertreter der frühen italienischen Literatur – an", erklärt Alfred Noe, stellvertretender Vorstand des Instituts für Romanistik, der zusammen mit seinem Fachkollegen Gualtiero Boaglio in Österreich produzierte italienische Literatur ausgeforscht hat.

Grenzen überschreiben

Viele dieser – meist in Wien produzierten – Werke fanden weder in der italienischen noch in der österreichischen Literaturgeschichte Platz: "Die Literaturwissenschaft geht aus den Vorstellungen des 19. Jh. hervor: Literatur wird demnach immer als Leistung eines Volkes verstanden", erklärt Gualtiero Boaglio vom Institut für Romanistik das Problem. Die italienische Literaturgeschichte des 19. und 20 Jh. habe die eigenen Dichter im Ausland – und speziell jene am Wiener Hof – als Verräter oder Lakaien im Dienste ausländischer Tyrannen eingestuft und deshalb nicht berücksichtigt.


Italienische Literatur in Österreich hat eine lange Tradition, fand aber bisher weder in der italienischen noch in der österreichischen Literaturgeschichte ihren Platz. Die geistigen Strömungen des Humanismus, des Barock und der Aufklärung kamen aus den italienischen Gebieten nach Wien, wo sie durch die ansässigen italienischen Autoren nachhaltig verwurzelt wurden.



Die beiden Wissenschafter haben sich deshalb diese Lücke in der Nationalliteratur zum Projekt gemacht und die italienische Literatur in Österreich zwischen dem 14. Jh. und 20. Jh. erforscht: Noe hat sich den Zeitraum vom 14. Jh. bis 1797 vorgenommen und Boaglio hat die Phase von 1797 bis 1918 untersucht. Mit ihrer Forschungsarbeit, die auch in Italien auf reges Interesse stößt, wollen sie mit alten Klischees aufräumen und das Konzept der Nationalliteratur revidieren: "Wir wollen zur Vorstellung einer europäischen Literatur als gemeinsame europäische Tradition zurückkehren", so Noe und Boaglio.

Von der Universität zum Kaiserhof

Die Blütezeit des Italienischen in Österreich war zur Zeit des Barock: "Während sich im 15. und 16. Jh. die italienischen Literaten noch rund um die Universität sammelten, drehte sich im 17. Jh. alles um die Wiener Hofburg", erzählt Noe. Als Hofdichter wurden meist "Stars" aus Italien engagiert, wie z.B. Nicolò Minato oder Pietro Metastasio. Letzterer zählt zu den berühmtesten italienischen Autoren des 18. Jh.


Der italienische Dichter und Librettist Pietro Trapasso (unter dem Pseudonym Metastasio bekannt) wurde 1698 in Rom geboren. 1730 kam er unter Karl VI als Hofdichter an den Wiener Hof, wo er viele Dramen für das Kaiserliche Hoftheater sowie geistliche Texte verfasste. 1782 starb er in Wien.



Metastasio lebte über 50 Jahre lang in Wien – ohne jemals Deutsch zu lernen. "Das war zu jener Zeit nicht notwendig – Italienisch war unter Leopold I. und Karl VI. eine der offiziellen Sprachen am Wiener Hof", so Noe. Mit dem Einzug von zwei italienischsprachigen Kaiserinnen ist auch die italienische Kultur nach Wien gekommen: "Leopold I. hat mit seiner Stiefmutter Eleonora Magdalena Gonzaga ohne Zweifel italienisch gesprochen", ergänzt Boaglio.

Glorifizierung der Dynastie

Die Epoche vom 14. Jh. bis 1797 zeichnet sich vor allem durch die Huldigungsdichtung zur Verherrlichung des Kaiserhauses aus. Unterschätzt wurde bisher die Bedeutung politischer oder wissenschaftlicher Themen in der italienischen Literatur Wiens jener Zeit: "So ist z.B. die Aufklärung über italienische Intellektuelle rund um Prinz Eugen – und nicht erst später unter französischem Einfluss – nach Wien gekommen", erzählt Noe ein spannendes Detail.


Insgesamt hat Alfred Noe über 2.300 in Österreich gedruckte italienische Titel – Libretti, Gebetsbücher usw. – "ausgegraben". Werke, die mit den in Italien produzierten durchaus mithalten können und dort zum Teil auch übernommen wurden.



Obwohl mit der französischen Revolution die Nationalliteratur in den Vordergrund gerückt war und das Italienische in Österreich an Bedeutung verlor, gab es in Wien immer noch bekannte italienische Persönlichkeiten. "Viele von ihnen würden wir heute aber eher als Abenteurer bezeichnen – wie z.B. den Hofdichter Minato, der wegen seiner Schulden aus Venedig geflüchtet war und sich in Wien plötzlich mit 'Conte' betitelte", lacht Noe.

Italienische "Pop-Kultur"

Im Jahr 1797 bescherte das Friedensabkommen mit Napoleon Österreich die wirtschaftlich sehr bedeutsame Region Venetien. "Die Präsenz des Italienischen – Gattungen, Genre und Themen der Werke – in Wien änderte sich. Hinzu kamen Wörterbücher, Grammatiken und die Produktion von Schulbüchern für die italienischen Provinzen", erklärt Boaglio. Die italienische Kultur des 19. Jh. verließ den Hof in Richtung Stadt: Sie wurde populär.


Die Tradition der Hofdichtung wurde bis 1829 unter Erzherzogin Maria Beatrice von Este weiter geführt. Danach kam es zur Popularisierung der italienischen Sprache: Wörterbücher und literarische Schulanthologien sind deshalb zentraler Bestandteil der italienischen Literatur von 1797 bis 1918.



"Im 19. Jh. fand ein systematischer Kulturaustausch zwischen den Ländern statt: So erschien in Wien eine italienische Zeitung und in Mailand eine österreichische", ergänzt Boaglio. Die ersten Fremdsprachkurse an der Universität Wien waren Italienischkurse. "Man brauchte Beamte mit guten Italienischkenntnissen für die dazugewonnenen Gebiete". Auch Kaiser Franz Josef wurde regelmäßig in Italienisch unterrichtet: "Seine Hausübungen bestätigen, dass er sogar sehr gut darin war – während er in Französisch 'nur' eine drei hatte", schmunzelt Boaglio abschließend. (ps)


Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Alfred Noe, stv. Vorstand des Instituts für Romanistik, und Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Gualtiero Boaglio vom Institut für Romanistik befassen sich seit 15 Jahren mit italienischer Literatur in Österreich. Die vom FWF geförderten Publikationen "Geschichte der italienischen Literatur in Österreich. Band 1: Von den Anfängen bis 1797" und "Geschichte der italienischen Literatur in Österreich, Band 2: Von Campoformido bis Saint-Germain 1797-1918" sind 2011 und 2012 erschienen.