Die Heterogenität der Krise
| 13. Mai 2020Die Wachsamkeit gegenüber Eingriffen in die Privatsphäre wächst im Verlauf der Corona-Krise. Das ist eines der vielen Ergebnisse einer Panelumfrage, mit der Wissenschafter*innen der Uni Wien Einstellungen und Verhalten der Bevölkerung erfassen. Die Daten sind über einen Blog öffentlich zugänglich und ergänzen so die gesellschaftliche Debatte.
Wie viel Alkohol trinken Sie in Zeiten von Corona? Wie informieren Sie sich? Haben Sie vermehrt Konflikte zuhause? 1.500 Österreicher*innen beantworten diese und andere Fragen derzeit wöchentlich. "Das Besondere an unserer Panelstudie ist, dass es sich um eine repräsentative Stichprobe der österreichischen Bevölkerung handelt", erklärt Wirtschaftssoziologe Bernhard Kittel von der Uni Wien, der das Projekt ins Leben gerufen hat. So werden die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Einstellungen und Verhaltensweisen der Bevölkerung, aber auch die Veränderungen individueller Situationen und Sichtweisen deutlich.
"Auffällig ist, dass die Bereitschaft zur Einhaltung von Maßnahmen wie der Ausgangssperre anfangs extrem hoch war", erzählt er. Das sei zurückgegangen: "Die Bereitschaft geht sehr stark mit einer Wachsamkeit gegenüber Eingriffen in der Privatsphäre einher." Die Ergebnisse zeigen zwar: Je größer die Angst, desto eher werden einschneidende Maßnahmen akzeptiert, aber die Akzeptanz muss "aus einem selbst kommen."
Ungleichheit verstärkt sich
Ansonsten wird vor allem eines klar: Wie heterogen die Krise wirkt. Die Ergebnisse machen sichtbar, dass Corona die Ungleichheiten im Land verstärkt: Beim Arbeiten, Wohnen, im Einkommen. Beengte Wohnverhältnisse begünstigen Konflikte. Einsame trinken und rauchen mehr. Youtube-Nutzer*innen sind empfänglicher für Verschwörungstheorien. Aber auch Faktoren wie das Stadt-Land-Gefälle wiegen schwer. "Was soll eine Familie machen, wenn aufgrund der schlechten Internetverbindung am Land schon die Zoom-Konferenz ein Problem ist?", fragt Kittel. So sei weder Homeoffice noch Homeschooling möglich.
Wie wird die Corona-Krise in der Bevölkerung wahrgenommen? Welche Auswirkungen hat sie auf die Gesellschaft? Fragen wie diese untersuchen die Wissenschafter*innen rund um Bernhard Kittel und Barbara Prainsack im Rahmen einer Panelumfrage zur Corona-Krise. Die erhobenen Daten werden über den Corona-Blog der Uni Wien publiziert und können von anderen Wissenschafter*innen weiter genutzt werden.
"Unterschätzt wurde auch die Stigmatisierung von Risikogruppen", so Barbara Prainsack vom Institut für Politikwissenschaft, die gemeinsam mit Katharina Kieslich eine qualitative Studie leitet, die in neun europäischen Ländern Tiefeninterviews mit Menschen aus verschiedenen Altersgruppen, Regionen, und Einkommensklassen führt. Die beiden Studien sind formal unabhängig, ergänzen sich aber inhaltlich. "Corona macht die negativen Effekte von Ungleichheiten sichtbarer und akuter. Das zeigt, was wir politisch angehen müssen", fasst sie zusammen. "Eine neue Erkenntnis ist das nicht. Es ist nur erschreckend, wie schnell es deutlich wird", so die Politologin. Gesellschaften und Staaten, die geringere Ungleichheiten haben, seien resistenter und resilienter in Krisensituationen.
Blinde Flecken im System
Problematisch ist auch, dass manche Bereiche durch den Maßnahmenkatalog der Regierung kaum erfasst werden. "Die vielen prekär Beschäftigten, die nicht in Angestelltenverhältnissen stehen, oder junge Arbeitslose, die noch nicht lange genug gearbeitet haben für einen Anspruch auf Arbeitslosengeld, sind ein blinder Fleck", so Kittel: "Diesen Menschen fehlt die Perspektive auf ein Einkommen." Die Kinderbetreuung in Verbindung mit Schulen und Kindergärten gehöre ebenso dazu, ergänzt Prainsack: "Die ungleichen Möglichkeiten von Kindern an Bildungsteilhabe werden politisch immer noch zu wenig beachtet." Hier brauche es langfristig bessere Lösungen, als Laptops zur Verfügung zu stellen.
Auch der Wunsch nach größeren, umgreifenden Veränderungen finde sich in den Daten. "Viele Menschen wünschen sich angesichts der Ungleichheiten ein neues Wirtschaftssystem", so Prainsack. Manche hätten Angst, dass Themen wie Umweltschutz oder Migration nun untergehen: "Aber die Bereitschaft etwas am eigenen Verhalten zu ändern, ist eher gering."
Corona-Virus: Wie es unser Leben verändert
Von neuen familiären Abläufen bis hin zu den Auswirkungen auf Logistikketten: Expert*innen der Universität Wien sprechen über die Konsequenzen des Corona-Virus in unterschiedlichsten Bereichen.(© iXismus/Pixabay)
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Immunitätsapps und ihre Folgen
Die Politologin fügt an, dass sie sich eine stärkere Debatte über mögliche unintendierte Konsequenzen von Immunitätsapps wünscht, deren Einführung in manchen Ländern – und auch in Österreich – diskutiert wird. "Wir hören mittlerweile aus verschiedenen Ländern, dass Menschen eine bewusste Infizierung in Kauf nehmen würden, um nicht von Arbeitsmöglichkeiten oder Reisen ausgeschlossen zu sein", berichtet sie von Ergebnissen der qualitativen Studie. Die Furcht vor schwerwiegenden wirtschaftlichen Folgen wiege in diesen Fällen schwerer als das Risiko gesundheitlicher Gefahren. "Die Debatte in dem Bereich auf den Datenschutz zu reduzieren, halte ich für fatal", so Prainsack.
Unabhängig und transparent
Oberste Priorität für die Mitwirkenden der Studie hat die kompromisslose Unabhängigkeit und die absolute Transparenz ihrer Forschung. "Wir sind keine Politikberater*innen", betont Prainsack: "Wir formulieren und analysieren die Fragen. Wir halten nichts zurück, alle Ergebnisse werden veröffentlicht." Die erhobenen Daten werden über den Corona-Blog der Uni Wien publiziert und können von anderen Wissenschafter*innen weiter genutzt werden. Warum die Offenheit? "Wissenschaft muss einen Beitrag leisten, aber wir können den nicht allein leisten", schließt Kittel. Man brauche die Zusammenarbeit. (sn)
Ein interdisziplinäres Team um den Wirtschaftssoziologen Bernhard Kittel, die Politikwissenschafterinnen Barbara Prainsack und Sylvia Kritzinger sowie den Kommunikationswissenschafter Hajo Boomgarden von der Universität Wien hat das Austrian Corona Panel Project initiiert. Zu den engsten Mitarbeiter*innen zählen David Schiestl, Julia Partheymüller, Fabian Kalleitner und Carolina Plescia von der Universität Wien. Die erste Phase des Projekts wird vom WWTF gefördert.