"Zentral ist die Erfahrung des sich Bewegens"

Kind schaukelt am Seil

Bewegung und Sport haben in unserer Gesellschaft einen besonderen Stellenwert, das gleichnamige Unterrichtsfach fällt jedoch weiterhin ins Wasser. Dabei fördert es aus sportpädagogischer Sicht die ganzheitliche Bildung Heranwachsender, so Sportpädagog*innen der Uni Wien im Gastbeitrag.

Nach über zwei Monaten werden die österreichischen Schulen ab 18. Mai bzw. 3. Juni 2020 ihren Unterricht schrittweise wiederaufnehmen, doch im Fach Bewegung und Sport (BuS) ist dies nicht vorgesehen. Ein Umstand, der öffentlich kontrovers diskutiert wird. Dazu einige Gedanken aus sportpädagogischer Sicht.

Bewegung und Sport sind in unserer modernen Gesellschaft von besonderer Bedeutung. Entsprechend besitzt das Unterrichtsfach eine breite bildungspolitische Legitimation. Im schulischen Fächerkanon zielt besonders BuS auf eine ganzheitliche Bildung ab. Es verfolgt Lern-ziele auf sensomotorischer, kognitiver und affektiver Ebene. Diese angemessene Bewegungsförderung aller Kinder und Jugendlichen unterstützt schulisches Lernen nachhaltig und legt ein grundlegendes Fundament sport- und bewegungsspezifischer Kompetenzen.

Ganzheitliche Entwicklung

Sportunterricht fördert die ganzheitliche Entwicklung Heranwachsender, indem Schlüsselkompetenzen wie Teamfähigkeit ausgebildet werden. Insbesondere das Thematisieren vorhandener Ambivalenzen im Feld Bewegung und Sport, wie Macht und Ermächtigung, Heterogenität und Diversität, Doping und Fairness, das in der pädagogischen Verantwortung liegt, bietet Potenzial für heranwachsende Generationen. BuS-Unterricht geht weit über das bloße Sporttreiben hinaus, zentral ist die Erfahrung verschiedener Perspektiven des sich Bewegens, wie Gesundheit, Gestalten, Leisten oder Erleben.

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BuS hat also die (doppelte) Aufgabe, sowohl die Bewegungs- und Sportkultur zu erschließen als auch einen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen zu leisten. Diese pädagogische Leitidee findet sich im Bildungsstandard BuS und in den kompetenz-orientierten Lehrplänen wieder. Nicht zuletzt ist BuS dafür prädestiniert, fächerübergreifende Bildungsanliegen wie interkulturelle Bildung, reflexive Geschlechterpädagogik und Umweltbildung für nachhaltige Entwicklung gezielt aufzugreifen und zu unterstützen.

Dank der außergewöhnlichen Umstände hat sich in diversen Feldern gezeigt, dass Engagement und Kreativität zu außerordentlichen Ergebnissen führen können. Sportlehrkräfte verfügen aufgrund ihrer akademischen Ausbildung über professionelle Kompetenzen, Möglichkeitsräume zu schaffen, die ein Abhalten von BuS auch unter den höchst verantwortlich gesetzten Maßnahmen realistisch erscheinen lässt.

Sport ohne Körperkontakt im Freien

Durch Spiele ohne Körperkontakt, Workouts oder Ganzkörpertrainings, Koordinationsübungen, Tanz, Stretching und Entspannung, kleine Wanderungen oder Läufe unter Beachtung der Abstandsregeln kann ein Beitrag zur Entwicklung von Fachkompetenz geleistet werden. Die bewusste Wahrnehmung des eigenen Körpers und soziale Interaktion helfen den Schüler*innen ihre Selbst- und Sozialkompetenz zu entwickeln. Zudem kann durch die Vermittlung von Wissen, wie ein sinnvolles und sicheres Bewegen in der Freizeit stattfinden kann, die Methodenkompetenz gestärkt werden.

Die aktuelle Situation lässt sich auch gezielt dafür nutzen, dass Schüler*innen den Einsatz digitaler Medien und Technologien für körperliche und sportliche Optimierungs- und Inszenierungsprozesse reflektieren lernen. Der Sportunterricht kann zudem im Freien stattfinden, so-wohl auf schuleigenen Außensportanlagen, in der Natur, in Parks oder im öffentlichen Raum, wie auch in der Freizeit.

In Bewegung kommen

Es ist zu befürchten, dass der Entfall von BuS jene Schüler*innen besonders trifft, die außer-schulisch wenig Anreize für Sport und Bewegung erhalten. In einem doppelten Sinne wäre es daher für alle Kinder und Jugendlichen bedeutsam, in Bewegung zu kommen: Um ihnen einerseits ein im Schulsystem einzigartiges ganzheitliches Bildungsangebot anzubieten und andererseits möglichen Unterschieden zwischen Schüler*innen zu begegnen. Dadurch könnte mit Bewegungsarmut einhergehenden Begleiterscheinungen vorgebeugt und Wohlbefinden gefördert werden. Besonders in Zeiten wie diesen wäre aus sportpädagogischer Sicht die Wiederaufnahme des Unterrichts im Fach Bewegung und Sport wünschenswert.

Der Gastbeitrag wurde von der Abteilung Sportpädagogik/-didaktik & Sportgeschichte, dem Institut für Sportwissenschaft der Universität Wien, sowie den Sportpädagog*innen Rosa Diketmüller, Stefan Meier, Christina Mogg, Rudolf Müllner und Andreas Raab verfasst.