Wie Kinder Linien und Farben wahrnehmen

Wilde Farben, sanfte Linien: Hanna Brinkmann, Kunsthistorikerin an der Universität Wien, beschäftigt sich mit der Wahrnehmung und Wirkung von Kunst. Spannende Aspekte ihres Projektes gibt es aktuell im ZOOM Kindermuseum an interaktiven Forschungsstationen zu "erleben".

uni:view: Frau Brinkmann, Sie forschen im Labor für empirische Bildwissenschaft an der Uni Wien. Was genau untersuchen Sie?
Hanna Brinkmann:
Wir forschen zu Kunsterfahrung und Kunstwahrnehmung, um herauszufinden, wie Kunst wirkt, wie wir sie betrachten, wie wir uns ihr nähern und wie sie uns bewegt. Das sind Fragen, welche die Kunstgeschichte und die Ästhetik seit über hundert Jahren beschäftigen und die deshalb selbst schon wieder eine Geschichte haben.  

uni:view: Wie nähern Sie sich diesen Fragstellungen?
Brinkmann:
Wir untersuchen diese Aspekte empirisch mit verschiedenen qualitativen und quantitativen Methoden – Interviews, standardisierte Fragebögen oder teilnehmende Beobachtung. Je nach Fragestellung kommt auch Eye-Tracking zum Einsatz, etwa dann, wenn im Fokus steht, wer wann wo und wie auf ein Bild schaut. Häufig macht ein Methodenmix am meisten Sinn. Diese Methoden werden in der Kunstgeschichte eher selten verwendet und stammen ursprünglich aus Disziplinen wie der Soziologie oder der Psychologie.

Die Frage nach der Kunstwahrnehmung ist eine interdisziplinäre: Sie berührt viele Disziplinen, weshalb wir im Labor für empirische Bildwissenschaft auch mit Wissenschafter*innen aus der Psychologie kooperieren. Es gab immer wieder Versuche im Bereich der Kunst(geschichte), empirisch zu forschen. Wassily Kandinsky hat etwa 1923 eine Fragebogenaktion zu Farb-Form-Korrespondenzen durchgeführt. Einige der ausgefüllten Bögen haben überlebt – bislang sind 26 aufgetaucht – und wurden 2015 publiziert. Wir haben diese analysiert und darüber einen Artikel verfasst. Das ist wissenschaftshistorisch sehr interessant und hat mich auch zu einer der Forschungsstationen im Kindermuseum inspiriert.

uni:view: Wie universell ist die Wahrnehmung von Kunst? Können Sie über Ergebnisse berichten?
Brinkmann:
In der Kunstgeschichte ging man lange Zeit von einem "idealen Betrachter" aus, ein theoretisches Konstrukt, welches hegemonial männlich, heterosexuell und westlich geprägt war. Dadurch war eine Universalität impliziert. Aus Eye-Tracking-Studien wissen wir, dass es bei der Betrachtung von Kunstwerken durchaus geteilte Muster gibt – wie wir zum Beispiel ein Gemälde betrachten, aber eben auch individuelle Unterschiede und Varianzen.

Ob dies auch bei ganz basalen visuellen Elementen wie Linien und Farben der Fall ist, war Thema in unserem Forschungsprojekt "Universal aesthetics of lines and colors? Effects of culture, expertise, and habituation", geleitet von Raphael Rosenberg. Zunächst haben wir theoretisch gearbeitet und uns angeschaut, welche Begriffspaare zur Beschreibung der Wirkung von Linien und Farben immer wieder verwendet wurden. In einer groß angelegten Studie mit Laien und Kunsthistoriker*innen konnte jedoch nur bei drei von 14 Begriffspaaren Übereinstimmung festgestellt werden: Bei "warm-kalt", "schwer-leicht" und "fröhlich-traurig" herrschte Einigkeit. Von Universalität kann in diesem Fall also keine Rede sein. Einzig bei einer Auswertung auf Einzelbildebene fanden wir Übereinstimmungen: Bei zwei Linien, die wir aus einem Werk von Kandinsky herausgenommen hatten, wurde die erste Linie generell eher als "ruhig", die zweite als "hart" empfunden. Dies deckt sich übrigens mit Theorien des Künstlers. 

Rote Farben sind warm, gedeckte Töne traurig. Oder? Für die Studie "Warm, lively, rough? Assessing agreement on aesthetic effects of artworks" bewerteten Kunstexpert*innen und Laien abstrakter Bilder von Wassily Kandinsky, Joan Miro und Fritz Winter. Zum Beitrag in uni:view
Zu Hanna Brinkmanns Artikel Ferocious Colors and Peaceful Lines. Describing and Measuring Aesthetic Effects

uni:view: Bis Oktober  können die Besucher*innen des ZOOM Kindermuseums Ihre Forschung an interaktiven Stationen erleben. Wie kam es zu der Zusammenarbeit?
Brinkmann:
Ich habe aufbauend auf unserem Forschungsprojekt das NEXT-Projekt "Wild Colors, Gentle Lines?" eingeworben, bei dem die Wissenschaftsvermittlung in die Gesellschaft im Fokus steht. Beim Thema Linien und Farben waren Kinder als außeruniversitäre Gruppe naheliegend. Ich habe mich also an das ZOOM Kindermuseum gewandt und dort stand man dem Thema gleich sehr offen gegenüber. Es geht darum, die Ergebnisse unserer Forschung der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Gleichzeitig wollen wir aber auch gemeinsam mit Kindern an dem Thema weiterforschen und ihre Meinungen hören, um so eine neue Perspektive auf unseren Forschungsgegenstand zu bekommen. Neben den Forschungsstationen im Foyer des Museums bieten wir auch Workshops im Trickfilmstudio an.

uni:view: Wie haben Sie den Übersetzungsprozess für eine andere Zielgruppe erlebt?
Brinkmann:
Klar war, dass ich das Projekt nicht in seiner Komplexität darstellen kann, sondern mich auf zentrale Aspekte konzentrieren muss. Herausgegriffen habe ich den oben erwähnten Kandinsky-Fragebogen und fünf der ursprünglich 14 Begriffspaare. Die Stationen richten sich an Kinder ab fünf Jahren, viele können die Begriffspaare, die für die Wirkung von Linien und Farben in Frage kommen, selbst noch gar nicht lesen. Wir haben also ein Erdmännchen ("Eddi") kreiert, das die Kinder durch die Stationen führt. In Kombination mit Objekten wird deutlich, um welche Eigenschaftswörter es sich handelt: Die Nuss steht für hart, die Rakete für schnell. Welche Linie wirkt schnell, welche langsam? Hier handelt es sich um ein recht abstraktes Konzept, das erfordert schon eine gewaltige Transferleistung der Kinder. Das Ganze ist für mich ein Experiment, das ich etwas lockerer sehe als Experimente im Labor. Ich kann nicht alles streng vorgeben, da sonst der Spaß für die Kinder verloren geht. Und der soll, gerade nach der langen "coronabedingten Durststrecke" im Bereich Kinderkultur, im Vordergrund stehen.

uni:view: Für alle, die noch keine Gelegenheit hatten, sich die Forschungsstationen anzusehen – was gibt es zu entdecken?
Brinkmann:
In erster Linie sollen die Forschungsstationen Impulse geben, über die Wirkung von Linien und Farben nachzudenken, aber auch die Frage nach der Universalität einer solchen Wirkung aufwerfen. Perspective taking ist etwa in der Farbstation inkludiert, die auch die Meinung der anderen Kinder veranschaulicht, die sich eventuell von der eigenen unterscheidet. Die Stationen stehen erst seit ein paar Tagen, aber was sich abzeichnet, scheint vergleichbar mit den Ergebnissen unserer Studie mit Erwachsenen zu sein: Es gibt eine große Bandbreite und die Wirkung ist eher individuell als universell. Lediglich beim Begriff "warm" waren auffällig viele orange und rote Zettel und bei "kalt" blaue Zettel im Container. Für die erwachsenen Begleitpersonen stehen vor Ort einige unserer Publikationen zur Verfügung, die weiterführende Informationen sowie konkrete Ergebnisse liefern und so hoffentlich auch ihren Weg in die Gesellschaft finden.

uni:view: Welche Potenziale bieten die Forschungsstationen im Museum als Form der Wissenschaftsvermittlung?
Brinkmann:
Das Museum bietet als außerschulischer Lernraum andere Möglichkeiten und die sozialen Interaktionen sind in solch einem Hands-on-Setting besonders spannend. An einigen Tagen der Woche sind meine Kolleginnen und ich selbst vor Ort und sprechen mit den Kindern. Das geht ein wenig in die Richtung vom "living laboratory©", also der "Live Forschung im Museum", wie sie etwa in den USA betrieben wird. Museen und Ausstellungen sind eine gute Möglichkeit, Wissenschaft zu vermitteln und Forschung sichtbar und erlebbar zu machen.

uni:view: Danke für das Gespräch! (hm)

Hanna Brinkmann ist Kunsthistorikerin an der Universität Wien und forscht im Labor für empirische Bildwissenschaft zur Wahrnehmung und Wirkung von Kunst.
Sie leitet das NEXT-Projekt "Wild colors, gentle lines? Engaging with color and line in an interactive children's environment" (WWTF).