Wien-Wahl 2020: Where have all the voters gone?

Wahlurne

Laurenz Ennser-Jedenastik vom Institut für Staatswissenschaft der Universität Wien analysiert die Wien-Wahl 2020: Wie haben die Parteien im Vergleich zum Bundestrend abgeschnitten – und woher kommt der massive Rückgang bei der Wahlbeteiligung?

Die Wahlen zum Wiener Landtag und Gemeinderat sowie zu den Bezirksvertretungen sind geschlagen. Mehrere Ergebnisse des Wahltags stechen als bemerkenswert hervor – aber eines stellt alle anderen in den Schatten: der Rückgang der Wahlbeteiligung von 75 auf 63 Prozent (laut SORA-Wahlkartenprognose). Alle anderen Resultate können nur vor diesem Hintergrund sinnvoll interpretiert werden. Ein derart drastisches Minus bei der Teilnahme relativiert etwa so manchen Gewinn: Die SPÖ wird trotz Prozente-Plus am Ende weniger Stimmen haben als 2015, die Grünen gerade einmal gleich viele, und selbst die prozentuelle Verdopplung der ÖVP nimmt sich in absoluten Zahlen bescheidener aus.

FPÖ-Wählerschaft blieb zu Hause

Plausibelste Erklärung für diesen Wähler*innen-Schwund ist, dass große Teile der FPÖ-Wählerschaft von 2015 (damals hatte die Partei über 30 Prozent der Stimmen) zu Hause geblieben sind. Die Querelen um Ibiza, Parteispesen und Abspaltung des Team Strache boten eben auch wenig Grund für Wahl-Enthusiasmus. Die FPÖ kassiert mit einem Minus von 23 Prozentpunkten die zweitschwerste Niederlage bei einer Landtagswahl in der Geschichte der Zweiten Republik – unterboten nur noch von den Kärntner Parteifreund*innen nach dem Hypo-Skandal (2013). Egal, wie man selbst zur FPÖ steht, die Tatsache, dass eine Partei für krasses Fehlverhalten (Ibiza, Spesen) abgestraft wird, ist demokratiepolitisch sicherlich positiv zu werten.

ÖVP folgt dem Bundestrend

Viele aus dem blauen Lager, die nicht zu Hause geblieben ist, haben sich der ÖVP zugewandt. Die Volkspartei ist der größte Gewinner des Wahlabends – allerdings von einem historischen Tiefststand 2015 aus. Geholfen hat sicherlich (womöglich hauptsächlich) die Bundespolitik. In bundesweiten Umfragen hat die ÖVP zwischen Oktober 2015 und Oktober 2020 rund 20 Punkte zugelegt.

Im Schnitt der letzten 20 Jahre wirkt sich ein Prozentpunkt Veränderung im Bundestrend mit einem halben Punkt Veränderung bei Landtagswahlen aus: Wer also 20 Punkte im Bund zulegt, der sollte im Land in etwa 10 Punkte gutmachen (Ausreißer von diesem Trend gibt es natürlich immer wieder). Im Grunde hat die Volkspartei also nicht mehr (aber auch nicht weniger) getan als den Bundestrend der letzten fünf Jahre nun in Wien einzukassieren.

Laurenz Ennser-Jedenastik ist einer von drei Wissenschafter*innen der Universität Wien, die im September 2020 einen ERC Starting Grant erhalten haben. Der Politikwissenschafter erforscht in den nächsten fünf Jahren, wie sich politische Karrieren in Europa seit 1945 verändert haben und welche Konsequenzen das für Gesetzgebung und Wahlverhalten hat. Die ERC Grants der Uni Wien finden Sie hier.

Die Koalitions-Frage

Etwas besser als im Bundestrend ist der Wahltag für die SPÖ gelaufen. Mit erwarteten 42 Prozent ist man klare Nummer eins – und das, obwohl die Partei in Bundesumfragen bei rund der Hälfte dieses Wertes liegt. Die SPÖ festigt also ihre Machtposition in Wien und hat nun für die Koalitionsbildung mehrere Varianten zur Auswahl. Für eine Fortsetzung der mittlerweile schon zehn Jahre alten rot-grünen Koalition spricht, dass es hier die größten inhaltlichen Schnittmengen gibt. Sowohl in sozioökonomischen wie auch in gesellschaftspolitischen Fragen kommen SPÖ und Grüne gut zusammen.

Gegen Rot-Grün III spricht aus Sicht der SPÖ, dass sie den Grünen mehr an inhaltlicher Verantwortung übergeben müsste: Aufgrund des Wahlergebnisses steht der Ökopartei nämlich ein zweiter Sitz in der nach Proporz zusammengesetzten Stadtregierung zu. Alternativ dazu stünden ÖVP oder Neos als Verhandlungspartner bereit. Hier sind die inhaltlichen Gemeinsamkeiten schon etwas geringer – besonders bei Rot-Türkis. Für die Neos spräche aus Sicht der SPÖ, dass den Pinken nur ein Stadtratssitz zusteht, womit mehr Gestaltungsmacht bei der SPÖ verbliebe.

Grüne, Neos – und was macht Strache?

Sowohl Grüne als auch Neos können mit dem Wahlergebnis halbwegs zufrieden sein. Die Bäume wachsen zwar nicht in den Himmel, aber beide legen an Stimmenanteilen, Mandaten und Stadtratssitzen zu. Fast ein Viertel der Mandate (24 von 100) im neuen Gemeinderat werden von Grünen und Liberalen besetzt – deutlich mehr als je zuvor. Im Gegenzug kommen ÖVP und FPÖ gemeinsam auf nur 29 Sitze – ein historischer Tiefststand.

Ein Teil der Schwäche des rechten Lagers erklärt sich damit, dass das Team Strache den Einzug in den Gemeinderat verpasst hat. Ein Trost bleibt dem ehemaligen Vizekanzler der Republik aber: Da er in allen Bezirken auf Listenplatz 1 für die Bezirksvertretung kandidiert hat (und das Team Strache den Einzug in einigen Bezirken schaffen wird), kann er jetzt zurück zu den Anfängen gehen und Bezirksrat werden – wie anno dazumal im Jahr 1991.

Laurenz Ennser-Jedenastik war jahrelang Mitarbeiter der Österreichischen Nationalen Wahlstudie (AUTNES) und ist seit Juli 2020 Assistenzprofessor für Sozialpolitik am Institut für Staatswissenschaft der Universität Wien. (© privat)