Wien ohne Otto Wagner

Ohne Otto Wagner wäre Wien vor allem eines: weniger schön. Am 11. April 2018 jährt sich der Todestag des "Baulöwen" zum 100. Mal. uni:view spricht mit Stadtgeograph Walter Matznetter über Wagners "erlebbare" Spuren in Wien.

uni:view: Niemand hat Wien so geprägt wie Otto Wagner. Wer war der "Wiener Baulöwe"?
Walter Matznetter: Wagner stammt aus einem wohlhabenden Elternhaus in Wien Penzing. Nach einem Jahr an der Bauakademie in Berlin kehrt er nach Wien zurück und studiert an der Akademie der bildenden Künste. Seine Lehrer sind die "Platzhirsche der Ringstraßenarchitektur" August Sicard von Sicardsburg und Eduard van der Nüll. Wagner eröffnet bald sein eigenes Büro, plant traditionelle Wohnhäuser und kommt schnell zu Geld und Renommee.

Es vergehen einige Jahre und Wagner löst sich immer stärker von der historisierenden Architektur. Das Länderbankgebäude in der Hohenstaufengasse 3 von 1883/84 symbolisiert sein Kippen in einen schlichten, aber dennoch schön ornamentierten Funktionalismus. 1894 nimmt er eine Professur an der Akademie der bildenden Künste an und betreut Studierende aus vielen Ländern, unter ihnen Josef Plecnik, Max Fabiani oder Josef Hofmann.

uni:view: Abriss der Stadtmauern und Eröffnung der Ringstraße: Otto Wagners Schaffen fällt in eine bewegte Zeit. Was passierte in den 1860ern in Wien?
Matznetter: Der deutsche Architekt und Raumplaner Gerd Albers unterscheidet vier Phasen des Städtebaus. Otto Wagner gehört in die erste Phase, die sich von 1850 bis zum Ersten Weltkrieg erstreckt und die Gefahrenabwehrplanung zum Ziel hat. Der Begriff klingt seltsam, aber trifft für Wien genau ins Schwarze: 1873 wurden die Hochquellwasserleitungen errichtet, um die Cholera einzudämmen. Die Hauptsammelkänale wurden bis in die Vorstädte erweitert. Mit dem Gasometer 1899 wurde die Gasversorgung der kommunalen Hand übertragen, da die dezentralen Gaswerke einfach nicht sicher waren. Straßenbeleuchtung – zunächst mit Gas, zu Beginn des 20. Jahrhunderts dann elektrisch – zierte das einheitliche Straßendesign. Ziel dieser Periode war es, eine sichere und funktionale Stadt zu schaffen, soziale Aspekte waren unwichtig. Otto Wagner ist einer der besten Vertreter dieser Zeit.

Auch die Stadtbahn – heute Teile der U-Bahn – geht auf Otto Wagner zurück. Damals noch mit Dampf betrieben verband sie die Hauptbahnhöfe der Stadt: Westbahnhof, Bahnhof Wien Hauptzollamt, Hütteldorf und Heiligenstadt. (© Gryffindor/wikipedia CC BY-SA 3.0)

uni:view: Trinkwasser und Gasversorgung, sind das nicht durchaus soziale Anliegen?
Matznetter: Bis heute ist umstritten, ob Wagner "Nachreiter" der technischen Planungsphase oder Vorreiter der sozial denkenden Moderne des 20. Jahrhunderts war. Die BewohnerInnen profitierten von den Neuerungen der Zeit, aber beispielsweise Lärm- oder Abgasbelastung – zwei wesentliche Aspekte für ein lebenswertes Leben im urbanen Raum – haben die Stadtplaner nicht mitgedacht. Es gibt Schriften aus der Zeit, die besagen, dass Leute den Lärm der mit Dampf betriebenen Stadtbahn kaum ausgehalten haben. Der Funktionalismus stand eindeutig im Vordergrund.

Mehr über Stadtplanung und Städtebau lehrt Walter Matznetter im Rahmen des Joint-Master-Studiums "Urban Studies". Die Studierenden absolvieren Lehrveranstaltungen an sechs Universitäten in vier europäischen Städten: Universität Wien, Université Libre de Bruxelles, Vrije Universiteit Brussel, Københavns Universitet, Universidad Autónoma de Madrid und Universidad Complutense de Madrid. Weitere Infos zum Joint-Master-Studium "Urban Studies"

uni:view: Wagner war 1893 mit Projekten am Generalregulierungsplan Wiens beteiligt und fortan nicht nur Architekt, sondern auch Städteplaner …
Matznetter: Seine Phase als Städteplaner fällt mit seiner Professur an der Akademie der bildenden Künste zusammen. Wagner hat sich als einer der ersten über die gesamte Stadt Gedanken gemacht. Die Bevölkerung Wiens wuchs damals rasant: Die damaligen Prognosen gingen davon aus, dass 1940 vier Millionen Menschen in Wien leben würden. Wagner hat dabei einen Hang zum Gigantomanischen entwickelt, das zeigt sein Entwurf zur unbegrenzten Großstadt von 1911. Geplant war eine monotone Rasterstadt, aber mit Parkanlagen, in der identische Gebäude hundertfach nebeneinander stehen. Zu der Umsetzung ist es aufgrund des Ersten Weltkrieges aber nicht gekommen.

uni:view: Welche seiner baulichen Eingriffe sind geglückt?
Matznetter: Wagner hat viele "erlebbare" Spuren in Wien hinterlassen. Studierende bringe ich jedes Semester zur Nussdorfer Wehr- und Schleusenanlage von 1899, für deren architektonische Gestaltung Otto Wagner zuständig war. Das ist für mich die "Verbesserung der Verbesserung". Dort zeigt sich, wofür Otto Wagner steht: Er hat technisch-innovative Ideen umgesetzt und die auch noch hübsch verpackt. Das Steinhofgelände von 1907 ist ein ähnliches Beispiel: Das riesige Spital war ein "funktionales Monster", aber immerhin schön.

Die Nussdorfer Wehr- und Schleusenanlage von 1899 befindet sich dort, wo der Donaukanal von der Donau abzweigt. Für Matznetter eine "Verbesserung der Verbesserung". (© Thomas Ledl/wikipedia CC BY-SA 3.0)

uni:view: Die Nachnutzung des Steinhofgeländes ist nach wie vor umstritten. Was wäre aus stadtplanerischer Sicht sinnvoll für Wien?
Matznetter: Wohnbau! Steinhof ist ein denkmalgeschütztes Ensemble, daher ist geförderter Wohnbau wohl schwer zu finanzieren. Denkbar ist ein freifinanzierter Wohnbau: Das Gelände ist am Südhang gelegen mit Blick über Wien, eine tolle Lage. Apartments im höheren Preissegment wären eine Aufwertung für die Gegend. Es sollte aber keine Gated Community sein, die geschützten Grünflächen müssen nach wie vor für alle nutzbar sein. Mit den lukrierten Geldern könnte die Stadt andere Projekte refinanzieren. Die sich anbahnende Nutzung durch die Central European University stellt eine sehr gute Ergänzung mit hochwertigen Arbeits- und Ausbildungsplätzen dar.

Otto Wagners berühmte Sonnenblumen wurden zum Exportschlager: Nicht nur in Wien – wie hier an der S45-Brücke über die Linzer Straße –, sondern auch in Brünn und Dubrovnik sind sie zu finden. (© Walter Matznetter)

uni:view: Was wäre Wien denn ohne Otto Wagner?
Matznetter: Vor allem weniger schön. Wagner hat seinen Stil gewandelt, vom biederen Zinshausarchitekten bis hin zum städteplanenden Funktionalisten. Seine hübschen Ornamente wurden serienmäßig produziert und sind überall in Wien zu bestaunen. Sein Stadtdesign fand sogar NachbauerInnen: Sein berühmtes Sonnenblumenmuster kommt aus einer mährischen Eisengießerei, findet sich aber nicht nur in Wien, sondern auch in Brünn oder in Dubrovnik, dort unter Palmen.

uni:view: Vielen Dank für das Gespräch!
(hm)

Walter Matznetter forscht und lehrt seit 1989 am Institut für Geographie und Regionalforschung der Universität Wien. Seine Schwerpunkte sind u.a. Stadtgeographie, Stadtplanung und Wohnforschung. Aufgewachsen ist er – wie Otto Wagner – im 14. Wiener Gemeindebezirk, mit Blick auf Wagners Brücke über die Linzer Straße, mit Sonnenblumengeländer. Sein Tipp: Mit der S45 Wiens Vororte durchqueren. (© Universität Wien)