Muttersprache war gestern

Bücher im Bücherregal

Dass wir nicht mehr in einer national-einsprachigen Welt leben, zeigt sich auch in der Literatur. Julia Rabynovich & Co. schreiben transnational und stoßen damit ein "Neu-Denken von Sprache an", so Miranda Jakiša vom Institut für Slawistik in ihrem Beitrag zur Semesterfrage.

Sprache bedeutet Zugehörigkeit: Mitreden können – das ist gesellschaftlich, politisch und persönlich von entscheidender Bedeutung für Menschen. Die Sprache des Fußballs, der Literaturkritik oder der Jugendlichen will beherrscht sein, möchte man dazu gehören. Auch die Literatur kennt Zugehörigkeit. Ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert schnürten die entstehenden Nationalstaaten Sprache, Volk und Territorium zu einem ganz neuartigen Identitätspaket, das die "nationale Zugehörigkeit" hervorbrachte. Darin spielte die Nationalliteratur eine konstitutive Rolle. 

Im Schullektüre-Kanon bildet sich das nach wie vor ab. Johann Gottfried Herders Vorstellung, dass "jede Nationalsprache sich nach den Sitten und der Denkart ihres Volks bildet", dass also ein Volk und eine Sprache zusammengehören, setzte sich durch und prägt als Konnex Sprache–Nation unser Selbstverständnis und unsere Identitäten bis heute. Insbesondere der emotional aufgeladene Bezug zur Erstsprache, der sogenannten "Muttersprache", suggeriert, es bestünde eine exklusive, organische und "natürliche" Verbindung zwischen uns und unserer Sprache.  

Ein Wort, das wirkt: "Das Wort Muttersprache ist ausschließend und erklärt Sprache zum exklusiven Besitz ethnischer Sprecher*innen. Die emotionale Aufladung ist im Zuge der Nationalstaatenbildung entstanden. Der Körper der Mutter steht für Nähe und verbindet gleichsam 'genetisch' Staatsbürger*innen mit Nationskörper. Folglich heißt das aber, nur jene verfügen über eine Sprache, die in ihr geboren wurden. Diese Vorstellung ist nicht zeitgemäß, 'Muttersprache' sollte durch 'Erstsprache' ersetzt werden." (© privat)

Die neue Literatur ist transnational

Angesichts neuer Medien und Kommunikationstechnologien, aber auch erhöhter Migration und globaler Mobilität, präsentiert sich die Welt nicht mehr national-einsprachig oder identitätszentriert. Auch viele Schriftsteller*innen sehen sich nicht einer Sprache – oder gar "Muttersprache" – verpflichtet. Sie verstehen ihre Literatur transnational, setzen ihre Mehrsprachigkeit wie selbstverständlich ein, denken und schreiben "postmonolingual", um den prägnanten Begriff der Literaturwissenschaftlerin Yasemin Yildiz einzuführen. 

Selbstverständlich Grenzen überschreiten

Wir befassen uns an der Universität Wien mit solchen mehrsprachigen Autor*innen. Deren zum Beispiel slawisch-deutsche Werke, die wir in der Germanistik und Slawistik behandeln, überschreiten ganz selbstverständlich nicht nur sprachliche, sondern auch nationale und kulturelle Grenzen. Friedrich Schleiermacher führte in einem für unsere Debatte immer noch wichtigen Vortrag 1813 aus, Sprachen ließen sich nicht wie ein "Gespann Pferde" einfach austauschen. Doch die transnationale Literatur macht deutlich, dass man sehr wohl mal die eine, mal die andere Sprache vor den Karren des eigenen Schreibens und Sprechens spannen kann. 


Jedes Semester stellt die Universität Wien eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. Im Sommersemester 2020 steht die Wirkung des Wortes im Mittelpunkt. Welche Rolle spielt die Sprache für unsere Identität? Was passiert beim Spracherwerb im menschlichen Gehirn und wie setzen wir Denken in Sprache um? Zur Semesterfrage "Wie wirkt Sprache?" Diskutieren Sie darüber im Forum+ auf "derStandard.at"

In der Literatur die Sprache wechseln – einfach so!

In Österreich zeigen Schriftsteller*innen wie Barbi Marković, Marko Dinić oder Julia Rabynovich, die nicht (nur) in ihrer Erstsprache, sondern (auch) auf Deutsch schreiben, dass man sehr wohl Serbisch-Schreiben, Russisch-Schreiben und Deutsch-Schreiben – abwechselnd oder zugleich – kann. Diese Literatur macht Mehrsprachigkeit und globale Beweglichkeit sichtbar und stößt dabei ein Neu-Denken von Sprache an, die eben nicht einem Volk gehört, und auch nicht jedem Einzelnen eine Sprache zuweist. 

"Transnational" – das ist so etwas wie ein "bescheideneres global", denn es gibt nicht vor, dass das Nationale überwunden sei, macht aber auch nicht an seinen Grenzen halt. Neuartige Sprach-Konstellationen und ein Bewusstsein jenseits der Einsprachigkeit überwinden das Territoriale und schlagen sich von Instagram über Netflix bis hin zur Sprachpraxis in Kernfamilien nieder.

Unsere universitären Disziplinen sind gefordert

In der Literatur realisiert sich der postmonolinguale Zustand in vielfältigen Formen. Diese reichen vom Schreiben in verschiedenen Sprachen über Schreiben in einer anderen Sprache (Exophonie) bis hin zum Schreiben in gemischten Sprachen. Das freilich fordert auch unsere universitären Disziplinen heraus. Gerade das philologische Denken, in dem (National-)Sprache eine große Rolle spielt, muss in einigen Aspekten die transnationale Literatur erst mal verdauen. Eine deutliche Veränderung machen wir disziplinär gegenwärtig in der Problematisierung unseres methodischen Nationalismus und in unserer Haltung zur Frage der Übersetzung durch. Während lange Zeit nur der Originalsprache unser philologisches Interesse galt, gewinnt die Übersetzung an Stellenwert. Hamsun, Flaubert, Dostoevskij, Pessoa, Byron, Lem, Pamuk, Čapek, Eco, Cervantes – auch die meisten Schriftsteller haben andere Schriftsteller nicht ausschließlich in der Originalsprache rezipiert und doch auf diesen Lektüreerfahrungen Weltliteratur geschrieben. 

Wir überdenken in den Seminaren also unsere traditionellen Begriffe: übrigens auch den der Weltliteratur, unter dem nicht mehr kanonische Werke, sondern die Beweglichkeit von Texten verstanden wird. Das Thema wird von den Studierenden mit Begeisterung aufgenommen. Auch, weil die Erfahrungen aus der transnationalen Literatur sich in der Lebenswelt vieler Studierender wiederfinden. Entsprechend freuen wir uns in der Slawistik auf die Lesung mit dem österreichisch-serbischen Autor Marko Dinić, die am 13. Mai – wenn nicht in Präsenz, dann immerhin als Online-Event – stattfinden wird. 

Miranda Jakiša ist seit dem Sommersemester 2019 Professorin für Südslawische Literatur- und Kulturwissenschaft am Institut für Slawistik der Universität Wien. Zu ihren Foschungsschwerpunkten gehören unter anderem bosnische, kroatische und serbische Literatur und Kultur (18. bis 21. Jh.), Literatur und kulturelle Identität sowie (Post-)Jugoslawischer Film.