Sprache als Spiegel der Kulturen
| 03. April 2020"Sprache ist eines der wichtigsten menschlichen Ausdrucksmittel", sagt Melanie Malzahn. Sie prägt unsere Identität und Kultur. Im Interview erklärt die Sprachwissenschafterin, wie wir unser historisches Gedächtnis durch Sprachen erforschen können.
uni:view: Sprachwissenschaft zu studieren bedeutet mehr als das Erlernen einer Sprache. Was gehört dazu?
Melanie Malzahn: Sprache ist ein interessantes kognitives Phänomen. Die Sprachfähigkeit unterscheidet uns Menschen von unseren nächsten Verwandten, den Affen. In den Kognitionswissenschaften wollen wir wissen, was das unterscheidende Element ist. Wann hat ein Affe angefangen, Sprachfähigkeit auszubilden? Sprache ist ein Kommunikationsinstrument zwischen Menschen und damit Ausdruck und Träger von Kultur. Sie hat immer eine kulturelle Komponente, aber eine kognitive Basis. Die Vorgänge im Gehirn, die uns die Möglichkeit geben, ein komplexes Zeichensystem zu verwenden, sind in ihren Einzelheiten noch nicht verstanden.
Die Philologisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät umfasst Philologien und Kulturwissenschaften, die sich v.a. mit sprachlichen und kulturellen Äußerungen von Menschen beschäftigen. Der Fokus auf Sprache und Text macht die Fakultät zum idealen Ort für Sprachwissenschaft, welche verschiedene Sprachen, Sprachräume und Kulturgemeinschaften sowie Musik-, Theater-, Film- und Medienwissenschaft, die sich mit Musik, Film und Medien als erweiterten "Text"-Begriff beschäftigt, umfasst. (© Franz Pfluegl)
Sprachevolution wird daher in den Kognitionswissenschaften und in der Sprachwissenschaft erforscht. In der Sprachwissenschaft beschäftigen wir uns mit der Struktur von Sprache auf verschiedenen Ebenen, zum Beispiel mit der lautlichen Äußerung, der Phonologie. Babys sind in der Lage, eine oder mehrere Sprachen mit muttersprachlicher Kompetenz zu erlernen. Das heißt, ihre kognitiven Fähigkeiten sind so flexibel, dass jede Art von Lautsprache erlernt werden kann. Das ist ein Fenster, das sich spätestens in der Pubertät schließt. Ab dann können Menschen weiterhin Sprachen lernen, aber keine muttersprachliche Kompetenz mehr erwerben, das ist interessant.
uni:view: Was bedeutet das?
Malzahn: Einer der Gründe, warum wir sprechen, ist, weil wir uns damit in unserer Gruppe, Familie oder Clan verständigen können. Andererseits gibt uns die Sprachevolution bis ins Erwachsenenalter Flexibiliät, um uns einer neuen kommunikativen Gruppe anzuschließen. Aber als Erwachsene bleiben wir in einer neuen Gruppe erkennbar als Fremde, als Kind nicht.
uni:view: Sagt das nicht etwas über die Verbindung von Sprache, Kultur und Identität aus? Selbst, wenn wir das nicht wollen, prägt Sprache unsere Identität.
Malzahn: Genau. Sprache hat immer etwas mit Identität und Kultur zu tun, und wird von Kulturen in unterschiedlichem Ausmaß identitätsprägend eingesetzt oder unterdrückt. Das ist ein Teil, den die angewandte Sprachwissenschaft untersucht. Weil Sprache komplex ist und einen kognitiven, kulturellen und formalen Anteil hat, gibt es auch unterschiedliche Zweige der Sprachwissenschaft.
uni:view: Wieso ist es im Berufsleben interessant, Sprachen abseits des Englischen zu beherrschen?
Malzahn: Weil die Menschen auf diesem Planeten nicht nur Englisch sprechen. Chinesisch ist eine Sprache, die Milliarden beherrschen, nicht nur muttersprachlich, sondern auch als Verkehrssprache. Die aus dem kolonialen Kontext stammenden Sprachen wie Spanisch oder Portugiesisch sind auch solche Verkehrssprachen. Wenn Sie an anderen Kulturräumen interessiert sind, in denen bestimmte Sprachen relevant sind oder waren, dann ist es selbstverständlich, dass Sie diese Sprachen lernen. Wollen Sie die niederländische Kunst des 16. Jahrhunderts untersuchen, dann sollten Sie Niederländisch lernen.
Jedes Semester stellt die Universität Wien eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. Im Sommersemester 2020 steht die Wirkung des Wortes im Mittelpunkt. Welche Rolle spielt die Sprache für unsere Identität? Was passiert beim Spracherwerb im menschlichen Gehirn und wie setzen wir Denken in Sprache um? Zur Semesterfrage "Wie wirkt Sprache?"
uni:view: Sie sind seit vier Jahren Dekanin an der Philologisch- Kulturwissenschaftlichen Fakultät. Was zeichnet ein sprachwissenschaftliches Studium an der Uni Wien aus?
Malzahn: Die Sprachwissenschaft an der Uni Wien ist sehr groß und heterogen. Das heißt, sie kann in fast allen Bereichen Lehre und Forschung anbieten. Wir haben forschungsgeleitete Lehre, die international angesehen ist, und besetzen gerade unsere erste Professur für Psycholinguistik. Wir sind Teil des Cognitive Science Hubs, in dem spannende Forschung passiert. Auf der anderen Seite haben wir eine international berühmte angewandte Sprachwissenschaft, insbesondere die sogenannte Diskursanalyse, die von Ruth Wodak mitbegründet wurde.
Wir sind in Wien auch stark in der Syntaxtheorie und der historischen Sprachwissenschaft verankert. Die Community ist groß und wir als Lehrende und Forschende sind auch über die Fakultät hinaus gut vernetzt. Es gibt unglaublich viel Angebot. Die Weltklasse der Sprachwissenschaften an der Uni Wien drückt sich auch darin aus, dass wir in internationalen Rankings als Fachgruppe in den letzten Jahren immer unter den ersten 50 weltweit waren. Und da konkurrieren wir mit amerikanischen Eliteuniversitäten, die viel mehr Geld haben.
"Sprache wirkt immer. Sprache wirkt in allen Bereichen, weil Sprache eines der wichtigsten menschlichen Ausdrucksmittel ist. Wir kommunizieren zum Großteil über Sprache und Texte. Wobei Text heute in unserer Wissenschaft nicht mehr nur das klassische Buch ist, das sind auch Texte, die in den sozialen Medien entstehen, oder in anderen Medien, wie zum Beispiel dem Film. Sie können auch einen Film als Text einer kulturellen Ausprägung lesen. Gerade die Beschäftigung mit sozialen Medien ist ein wichtiger Teil der angewandten Sprachwissenschaft. Da gibt es starke Bezüge zur Soziologie und Kommunikationswissenschaft", antwortet Melanie Malzahn auf die Semesterfrage "Wie wirkt Sprache?"
uni:view: Sie haben in einem Projekt eine Onlinedatenbank zum Tocharischen aufgebaut. Tocharische Sprachen sind ein ausgestorbener Sprachzweig in der indogermanischen Sprachfamilie. Wieso beschäftigen Sie sich mit einer Sprache, die niemand mehr spricht?
Malzahn: Wir haben über 10.000 Textfragmente einer buddhistischen Kulturgemeinschaft aus dem ersten Jahrtausend, ein Ausdruck der Seidenstraßenkultur, die keine Kontinuität in die Gegenwart haben. Das heißt, die Kultur dieser Menschen muss von uns rekonstruiert werden. Über die Textzeugnisse haben wir die Möglichkeit, eigene, kulturelle Aussagen dieser Menschen wiederzubeleben. Es gibt aber seit vielen hunderten Jahren keine Sprecher*innen mehr, die uns die Texte übersetzen, es gibt auch keine nahen, verwandten Nachkommen dieser Sprachen. Das bedeutet, sie müssen mit sprachwissenschaftlichen Methoden entschlüsselt werden.
uni:view: Wieso ist es denn allgemein wichtig, dass alte Sprachen nicht aussterben?
Malzahn: In der Sprachwissenschaft sind wir relativ neutral, was Sprachentwicklung betrifft. Sprachen ändern sich von Generation zu Generation, das ist eine ihrer intrinsischen Eigenschaften. Es gibt über 7.000 Sprachen. Sprachen wie Latein oder Sanskrit sind konserviert worden. Parallel dazu entwickelt sich die natürliche Sprache weiter. Wenn wir aufhören, uns mit ausgestorbenen Sprachen zu beschäftigen, verlieren wir zum Beispiel die Möglichkeit, uns mit der riesigen lateinischen Literatur zu beschäftigen. Latein wurde bis in die frühe Neuzeit hinein als Wissenschaftssprache gebraucht. Die Sprache muss also weiter gelehrt und beforscht werden, damit wir im westlich-europäischen Kontext wichtige Teile unseres historischen Gedächtnisses beforschen können.
uni:view: Wieso ist es für eine Gesellschaft wichtig, sich mit der Wirkung von Sprache zu beschäftigen?
Malzahn: Weil sie wirkt. Sprache wird in der Werbung und der Politik bewusst eingesetzt, um Wirkung in eine bestimmte Richtung zu erzielen, bewusst oder unbewusst. Deshalb muss Wissenschaft diese Phänomene in ihrem kulturellen und politischen Kontext untersuchen, zum Beispiel die Sprache der sozialen Medien, oder den Missbrauch von Sprache. Sprache kann bewusst missbraucht werden, um politische undemokratische Ziele zu erreichen. Umgekehrt kann Sprache aber bewusst eingesetzt werden, um Personen für Demokratie zu begeistern.
uni:view: Danke für das Gespräch! (sn)
Melanie Malzahn ist Dekanin der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät und hat seit 2012 die Professur für Vergleichende Indogermanische Sprachwissenschaft am Institut für Sprachwissenschaft. Sie hat eine Onlinedatenbank zum Tocharischen aufgebaut. (© Barbara Mair)