Lernen aus physical distance

Schülerin am Laptop

Uni Wien-Bildungspsycholog*innen haben die Coronakrise zum Forschungsgegenstand gemacht und bei Österreichs Lernenden nachgefragt: Wie geht es euch mit der neuen Lernsituation? Marko Lüftenegger präsentiert im Interview die ersten Ergebnisse der Online-Umfrage.

uni:view: Seit Mitte März lernen Schüler*innen und Studierende von zu Hause aus – inwiefern ist die derzeitige Situation aus bildungspsychologischer Sicht eine Herausforderung?
Marko Lüftenegger:
Aktuell sind in Österreich 1,2 Millionen Schüler*innen sowie rund 380.000 Studierende vom home-learning betroffen. Dieser Übergang ist nahezu "überfallsartig" innerhalb weniger Tage passiert – die Lernenden, aber auch die Institutionen Schule und Hochschule waren darauf schlecht bis gar nicht vorbereitet. Als Bildungspsycholog*innen interessiert uns nun vor allem, wie den Individuen der Umgang mit dieser neuen Lernsituation gelingt. Was funktioniert gut und was weniger? Wo liegen Risikofaktoren? Welche Unterstützung brauchen Schüler*innen im Lernprozess? Aber natürlich auch: Wie geht es den Lernenden im home-learning und wie steht es um Grundbedürfnisse wie Kompetenzerleben, Selbstbestimmung und soziale Eingebundenheit?

Die Studie Lernen unter COVID-19 wird von Wissenschafter*innen der Fakultät für Psychologie durchgeführt und vom WWTF unterstützt. Für die ersten Ergebnisse wurden die Antworten einer Teilstichprobe von 8.349 Schüler*innen zwischen zehn und 19 Jahren herangezogen. Es wurden auch Lehrkräfte befragt: zu den Ergebnissen geht es hier!

uni:view: Sie haben kurz nach dem landesweiten Lockdown die Studie Lernen unter COVID-19 ins Leben gerufen, deren ersten Teilergebnisse nun vorliegen – wie geht es den Schüler*innen im home-schooling?
Lüftenegger:
Es sind erste Ergebnisse einer Teilstichprobe – auch wenn diese mit über 8.000 Schüler*innen schon relativ groß ist, stellt sie doch nur circa ein Drittel unserer Gesamtstichprobe dar. Wir müssen noch viele weitere Auswertungen vornehmen und wir haben auch Umfrageergebnisse von Studierenden, auf die wir schon sehr gespannt sind. Was mich an den bisher vorliegenden Antworten der Schüler*innen positiv überrascht, ist der gute Umgang mit der jetzigen Situation: Viele Schüler*innen sind optimistisch und haben den Eindruck, dass sie das home-learning kompetent meistern.

Wir finden generell nur wenige Geschlechts- oder Alterseffekte. Es zeigt sich jedoch eine Tendenz, dass Mädchen an das Selbstlernen organisierter herangehen. Auch fühlen sich die jüngeren Schüler*innen im home-learning wohler als die Lernenden höherer Klassenstufen.

uni:view: Gibt es etwas, das die Schüler*innen auch von der Pandemie lernen können?
Lüftenegger:
Welche Kompetenzen wirklich nachhaltig erhalten bleiben, kann ich natürlich nicht vorhersagen. Es zeigt sich aber in den Studienergebnissen, dass sehr viele Schüler*innen fähig sind, ihr Lernen selbst zu organisieren: Sie erstellen Lernpläne, stecken sich Ziele und überlegen, wie sie diese erreichen können. Wenn diese Kompetenz auch über COVID-19 hinaus erhalten bliebe, wäre das viel wichtiger als Detailwissen zu einem bestimmten Thema, das ohnehin rasch vergessen wird. Ich würde empfehlen, dass Lehrkräfte gleich zu Beginn des Präsenzunterrichts die Erlebnisse mit dem Selbstorganisierten Lernen aktiv aufgreifen und mit den Lernenden besprechen. Sowohl die Dinge, die gut funktioniert als auch die, die nicht so gut funktioniert haben während des home-learning, sollten unbedingt sichtbar gemacht werden.

uni:view: Auch die universitäre Lehre wurde auf home-learning umgestellt – wie gestalten Sie momentan Ihre eigenen Vorlesungen und Seminare?
Lüftenegger:
Das war eine große Umstellung, dennoch habe ich es geschafft, alle Lehrveranstaltungen zum ursprünglich vereinbarten Termin im März online zu starten. Ich lehre momentan eine Vorlesung mit rund 1.600 Studierenden und vier Seminare. Die Seminare halte ich in Form von Videokonferenzen, die Vorlesungseinheiten zeichne ich wöchentlich auf und stelle sie dann gemeinsam mit Folien und Zusatzliteratur auf Moodle online. Für diese Vorlesungsgröße gibt es aktuell keine andere Möglichkeit, auch wenn ich meine Lehrveranstaltung gerne interaktiver gestalten würde.

Offen gesprochen ist die Umstellung auf home-learning schon ein erheblicher Mehraufwand: die didaktische und konzeptuelle Neugestaltung, es ist viel mehr Kommunikation notwendig, welche primär schriftlich abläuft. Was noch spannend wird, ist die Auswertung von circa 2.000 Online-Prüfungen im Open Book Format. Es gibt aber auch einen großen Pluspunkt der aktuellen Situation: Ich habe mich sehr intensiv in die Theorien und Ansätze rund um das home-learning eingearbeitet und dabei viel gelernt. Das wäre sonst in dieser Intensität wohl nicht passiert.

uni:view: Sie und Ihre Teamkolleg*innen von der Fakultät für Psychologie haben schnell reagiert und die aktuelle Krise zum Forschungsgegenstand gemacht – sehen Sie darin auch ein Stück weit wissenschaftliche Verantwortung?
Lüftenegger:
Jede*r sollte in der jetzigen Situation einen Beitrag für die Res Publica leisten – und wenn es nur das physical distancing ist. Als Wissenschafter*in, insbesondere mit einem Fokus auf Bildung, hat man jedoch eine besondere Verantwortung. Es sind so viele Menschen vom home-learning betroffen, hochgerechnet 1,5 Millionen, dass die Fragen, wie wir Lernprozesse optimieren und begleiten können, enorm wichtig sind. Im März war uns noch nicht bewusst, dass die Situation so lange andauern kann und uns eventuell immer wieder heimsuchen wird – jetzt öffnen wir langsam wieder die Schulpforten, doch es ist nicht absehbar, ob es im Herbst vielleicht schon die nächste home-learning-Phase geben wird. Unter diesem Aspekt sind die Ergebnisse unserer Studie natürlich noch wichtiger.

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uni:view: Inwiefern ist das von Ihnen generierte Wissen wegweisend für gesellschaftliche und politische Entscheidungen rund um COVID-19?
Lüftenegger:
Wir sind an mehreren Initiativen beteiligt, die gerade unterschiedliche Daten zu COVID-19 sammeln und vernetzen, um ein gesamtheitliches Bild der Lage zeichnen zu können. Diese Initiativen sind von der Politik initiiert oder zumindest begleitet. Ich hoffe, dass neben den wichtigen gesundheitlichen Aspekten bei zukünftigen Entscheiden der Politik auch psychosoziale Aspekte wie die Einbindung der Lernenden und deren Bedürfnisse eine stärkere Rolle spielen werden.

uni:view: Vielen Dank für das Gespräch!
(hm)

Marko Lüftenegger ist Assistenzprofessor für Entwicklungs- und Bildungspsychologie am Institut für Lehrer*innenbildung und am Institut für Psychologie der Entwicklung und Bildung der Universität Wien. Er forscht zu Entwicklung und Förderung von Motivation, Wohlbefinden und sozialen Emotionen im Bildungskontext sowie zur Wirksamkeit von Maßnahmen. (© privat)