Filme als moderne Form der Erinnerung und kulturelle Intervention

"Nein" sagen zu rechtsextremen und rechtskonservativen Vorstellungen: uni:view sprach mit Zeit- und Kulturhistoriker Frank Stern über die Filmretrospektive als neue Form des Erinnerns, die aufklärerische Wirkung von Filmen und – im Rahmen der Semesterfrage – über das Verteidigen der Demokratie.

uni:view: Herr Stern, gemeinsam mit Stephan Matyus, dem Leiter des Fotoarchivs der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, haben Sie 2005 die jährliche Retrospektive Mauthausen erstmalig initiiert und kuratiert. Wie kam es zu der Idee?
Frank Stern:
Es war uns wichtig, angesichts der gesellschaftlichen Situation in Österreich neue Formen des Gedenkens, der Erinnerung und der Auseinandersetzung zu finden. Entweder, wir setzen uns immer wieder damit auseinander, was im Nationalsozialismus geschehen ist und wie sich die und der Einzelne verhalten hat, oder wir gehen einen "blau-schwarzen Weg".

"Wir zeigen nicht einfach nur Filme über den Faschismus, sondern wir möchten, dass die Leute auch über die Geschichte des Ortes, über die Tausenden von Orten, bei denen es Konzentrationslager, Vernichtungslager, Arbeitslager gegeben hat, nachdenken", so Frank Stern. (Foto: KZ-Gedenkstätte Mauthausen / Stephan Matyus)

uni:view: Nach welchen Kriterien wählen Sie die Filme aus?
Stern:
Der Film muss inhaltlich und ästhetisch ein gewisses Niveau haben. Film ist mehr als Unterhaltung – es ist eine Kunstform. Die zeitgemäßen Formen der Aufklärung müssen sich auch der modernsten Mittel bedienen. Film kann hier, wenn er richtig eingesetzt wird, eine aufklärerische Wirkung haben. Sie können durch Filme natürlich nicht alle Vorurteile, die Menschen etwa durch Medien wie die "Kronen Zeitung", "Heute" und "Österreich" haben, widerlegen, aber wenn sie Menschen zum Nachdenken anregen, ist schon viel erreicht.

Wir zeigen Spielfilme, die seit 1946 in Europa entstanden sind und sich mit dem Faschismus, Nationalsozialismus und Vernichtungslagern auseinandersetzen. Dabei geht es nicht nur um die Fragen, wie es dazu kommen konnte und was passiert ist, sondern auch um den heutigen Umgang. Wir sehen gegenwärtig, wie PolitikerInnen hofiert werden, von denen bekannt ist, dass sie antisemitische und rechtsextreme Auffassungen haben. Dass sogar eine ganze Partei, deren Burschenschafter Tradition allgemein bekannt ist und die versucht sich als liberal zu verkaufen, in der gesellschaftlichen Mitte angekommen ist, sagt sehr viel über das Fehlen einer kritischen Geschichtsauffassung in großen Teilen der Bevölkerung aus. Es ist ziemlich klar, dass es hier neue Formen der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit braucht, Erinnerung benötigt interaktive Eigenschaften. Ich bin der Meinung, dass über gute faschismuskritische Filme viel transportiert werden kann, da sie Menschen unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Bildungsniveaus ansprechen.

Bei der Filmretrospektive wurden heuer vom 23. bis zum 26. August vor dem Besucherzentrum der KZ-Gedenkstätte Mauthausen Spielfilme zum Thema "Persönliche Verantwortung von 1933 bis 1945" gezeigt, wie u.a. der 1995 erschienene Film "Drei Tage im April", in dem es um ein deutsches Dorf am Ende des Zweiten Weltkriegs geht. (Foto: Screenshot "Drei Tage im April", Pressefoto)

uni:view: Relativierungen der NS-Verbrechen und Aussagen wie "Meine Generation ist nicht Schuld an dem, was passiert ist" nehmen aktuell zu. Wie kann man und sollte man auf so etwas reagieren?
Stern:
Man sollte aktiv auf diese Vorurteile Bezug nehmen. Wir haben in Österreich starke gesellschaftliche Kräfte, die genau diesen allgemeinen Opferdiskurs kolportieren. Wenn alle Opfer waren, gibt es keine TäterInnen mehr. Burschenschafter waren Mitträger des Nationalsozialismus und des Faschismus und sind heute Mitträger des Rassismus', Antisemitismus' und der Fremdenfeindlichkeit. Man muss den Mut haben zu sagen: Wir können aus der Geschichte lernen. Also die, die lernen wollen. Ich kann einen überzeugten Antisemiten nicht umstimmen, dass er kein Antisemit sein soll. Aber ich kann den Menschen, die diesem Antisemiten zuhören, aufzeigen, was daran falsch ist. Während in anderen europäischen Ländern jährlich zahlreiche Filme gegen Rassismus und Antisemitismus produziert werden, passiert leider in Österreich und Deutschland eher wenig. Hier müsste es viel mehr Filmförderung geben.

uni:view: Unsere aktuelle Semesterfrage lautet "Was ist uns Demokratie wert?". Wie beantworten Sie persönlich diese Frage?
Stern:
Demokratie ist die einzig mögliche Form, in der sich Individualität, Persönlichkeit und Menschenrechte entfalten können. Ohne Demokratie ist das Ende in der Barbarei abzusehen. Es muss also alles getan werden, um die Demokratie nicht nur nach formalen Regeln, sondern auch nach inhaltlichen Werten mitzugestalten. Dazu gehört auch, dass sich die Demokratie verteidigen können muss. Das heißt auch "nein" zu sagen zu rechtsextremen und rechtskonservativen Vorstellungen, zu judenfeindlichen und damit auch israelfeindlichen Aktivitäten, die auf den Abbau der Demokratie zielen, und die heutzutage unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit von Demokratiefeinden propagiert werden.

Jedes Semester stellt die Universität Wien ihren WissenschafterInnen eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. In Interviews und Gastbeiträgen liefern die ForscherInnen vielfältige Blickwinkel und Lösungsvorschläge aus ihrem jeweiligen Fachbereich. Die Semesterfrage im Wintersemester 2017/18 lautet "Was ist uns Demokratie wert?".

uni:view: Was können Universitäten dazu beitragen?
Stern:
Vielleicht sollte es einen richtigen Kinosaal geben (lacht). Bestimmte wissenschaftliche Disziplinen, wie etwa die Zeitgeschichte, haben von ihrem Ursprung her schon einen politischen Auftrag. Da ist es wichtig, aus dem universitären Umfeld hinauszugehen und aufklärerisch zu wirken. Es reicht nicht, Teile der Öffentlichkeit zu Veranstaltungen in die Universität zu bewegen, sondern der Weg muss auch umgekehrt stattfinden. Aus diesem Grund haben mein Kollege Klaus Davidowicz und ich in Kooperation mit dem Filmarchiv Austria und dessen Metrokino Kulturhaus die Initiative "FILMUNIVERSITÄT" gegründet.

uni:view: Welche Veränderungen bemerken Sie seit der Durchführung der ersten Filmretrospektive vor dreizehn Jahren?
Stern: Es spricht sich mehr herum, d.h. es kommen immer mehr Menschen. Und wir haben ein wachsendes Stammpublikum, das jedes Jahr wiederkommt. Zudem ist das Bedürfnis zu diskutieren größer geworden. Immer mehr Menschen möchten nach dem Film noch ein Gespräch führen oder stellen Fragen – durchaus auch mit Bezügen zur aktuellen politischen Situation. Die Gespräche nach den Filmen haben über die Jahre ungemein an Bedeutung zugelegt. Die Gesprächssituation kann manchmal genauso lange dauern wie der Film selbst.

Frank Stern im Gespräch mit den BesucherInnen. (Foto: KZ-Gedenkstätte Mauthausen / Stephan Matyus)

uni:view: Was würden Sie sich zukunftsgerichtet für die Filmretrospektive wünschen?
Stern:
Eine durch öffentliche Institutionen gesicherte Finanzierung, so dass wir langfristig planen können. Es ist wichtig, die Kostenfreiheit für das Publikum aufrechtzuerhalten. Das ist nicht immer leicht. Wichtig wäre es auch, das Konzept wieder erweitern zu können. Gerade in der gegenwärtigen politischen Situation Österreichs, dem Anwachsen von Rassismus und Antisemitismus, Rechtsextremismus und den Burschenschaften, die einem hier an jeder Ecke begegnen, wäre es wichtig, die Filmretrospektive auch in anderen Bundesländern durchzuführen – etwa für Schulklassen. Früher haben wir die Filme zusätzlich im Metrokino in Wien gezeigt, das mussten wir aber mangels Finanzierung einstellen. Ob das erneut möglich sein wird, wird sich zeigen.

uni:view: Vielen Dank für das Gespräch! (mw)

Über Frank Stern:
Frank Stern ist seit 2004 Professor für Visuelle Zeit- und Kulturgeschichte am Institut für Zeitgeschichte der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Seit 2004 kuratiert er die jährliche Filmretrospektive zu Faschismus an der Gedenkstätte Mauthausen, seit 2008 ist er gemeinsam mit Klaus Davidowicz vom Institut für Judaistik Direktor des Jüdischen Filmclubs Wien. Seine Forschungsschwerpunkte liegen u.a. auf der Deutsch-Jüdischen Kulturgeschichte, der Israelischen Kultur- und Filmgeschichte, der Visuellen Zeit- und Kulturgeschichte sowie der Filmgeschichte und Ästhetik von Filmen im historischen Kontext. (Foto: Frank Stern)