"Die Testlogistik hat den größten Handlungsbedarf"

Covid-19-Testsituation

Im FWF-Akutprojekt "Logistik-Entscheidungsunterstützung in der Pandemie" erforscht Karl F. Dörner von der Uni Wien mit Kolleg*innen die logistischen Herausforderungen der COVID-19-Pandemie. Unter anderem werden optimierte Testabläufe und innovative Zustellmethoden untersucht.

uni:view: Sie beschäftigen sich in Ihrem FWF-Akutprojekt unter anderem mit der Logistik von COVID-19-Testungen. Wo liegen hier aktuell die Herausforderungen?
Karl F. Dörner: Die Herausforderungen liegen in den zeitlichen Restriktionen und am hohen Unsicherheitsgrad – sowohl auf Angebots- als auch auf Nachfrageseite. Mitarbeiter*innen können durch Quarantäne oder Erkrankung ausfallen, die Testaufträge fallen dynamisch an und müssen in kurzer Zeit abgearbeitet werden.

Wir beschäftigen uns in der derzeitigen Situation mit dem taktischen Problem, das heißt: Wie viele Teststraßen und Testteams brauche ich, um den aktuellen Bedarf abzudecken? Allerdings lösen wir das operative Problem implizit mit – wer wird in der Teststraße getestet, wer zu Hause, von welchen Teams und wann. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Probe rechtzeitig ins Labor kommt und die zeitlichen Vorgaben eingehalten werden, wie lange es dauern darf, bis die getestete Person ein Testergebnis bekommt.

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Von neuen familiären Abläufen bis hin zu den Auswirkungen auf Logistikketten: Expert*innen der Universität Wien sprechen über die Konsequenzen des Corona-Virus in unterschiedlichsten Bereichen. (© iXismus/Pixabay)

uni:view: Warum ist die Pandemie generell eine logistische Herausforderung?
Dörner: Lebensmittel und Güter des täglichen Bedarfs haben grundsätzlich eine recht stabile Nachfrage. Es ist leicht vorherzusagen, wie hoch der Bedarf an diesen Artikeln ist. Dadurch werden die Supply Chains effizient und kostengünstig organisiert. Demgegenüber stehen die reaktionsfähigen Supply Chains, die man in der Katastrophenlogistik bzw. bei neuen innovativen Produkten benötigt.

Durch einen Lockdown ändert sich allerdings abrupt die Nachfragesituation. Die Bevölkerung ist mehr zu Hause und teilweise in Quarantäne. Dadurch fällt höherer Bedarf an Lebensmitteln und Hygieneartikel zu Hause an. Dazu kommt noch, dass uns unterschiedliche Ratgeber sagen, wie wir die Zeit zu Hause sinnvoll nutzen können, zum Beispiel mit Brotbacken. Die Nachfrage in den Supermärkten steigt dadurch und es werden Güter wie Germ besonders nachgefragt.

Wenn es durch erhöhte Nachfrage zu kurzfristigen Engpässen kommt, steigt die Nachfrage weiter über den tatsächlichen Bedarf, da sich bei Knappheit sogenannte Hamsterkäufen häufen. Das System schaukelt sich auf und es kommt zu kurzfristigen Fehlmengen. Auf der Angebotsseite gibt es teilweise Probleme aufgrund längerer Wartezeiten an den Grenzen oder weil das Personal erkrankt, was längere Lieferzeiten zur Folge hat. 

uni:view: Könnte es im Winter zu einer zweiten "Toiletpaper Crisis" kommen?
Dörner: Handelsketten können sehr gut auf Bedarfsschwankungen reagieren, etwa zu Ostern oder Weihnachten. Darüber hinaus haben Handelsketten einiges aus dem ersten Lockdown gelernt. Die Ressourcen für die Hauszustellungen wurden ausgebaut und die Abläufe optimiert. Grundsätzlich tun sich Handelsketten mit geringerer Produktvielfalt (wie typischerweise Diskonter) mit dem Umgang dieser kurzfristigen Bedarfsschwankungen leichter. Da es im ersten Lockdown zu keinen bzw. wenigen Lieferengpässen gekommen ist, wird es auch nicht zu so ausufernden Hamsterkäufen kommen.  

Wirkt. Seit 1365.
Die Universität Wien kooperiert in der Forschung mit Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft. Ihre Lehre bereitet jährlich rund 10.000 Absolvent*innen auf ihre Berufslaufbahn vor und regt sie zu kritischem Denken und selbstbestimmtem Handeln an. Mit dem Themenschwerpunkt "Wirkt. Seit 1365." zeigen wir Ihnen in verschiedenen Beiträgen, was die Universität Wien für unsere Gesellschaft leistet.

uni:view: Wie treffsicher sind Modelle, wenn Menschen in unsicheren Zeiten auch immer öfter irrationale Entscheidungen treffen?
Dörner: Modellgestützte Entscheidungsunterstützung ist nur so gut wie die verfügbaren Daten selbst – also entweder historische Daten oder Vorhersagedaten. Daher wäre es besonders wichtig, vorhandene Daten für Forschungszwecke verfügbar zu machen. Ein zentraler Punkt in unserem FWF-Projekt ist, genau diese irrationalen Entscheidungen in stochastischen und dynamischen Modellen abzubilden.

Wir versuchen, die Bedarfe in der Krise durch umfassende Umfragen besser einzuschätzen. Darüber hinaus wird in der Testlogistik auch die Bereitschaft der Bevölkerung mitberücksichtigt, die Pandemie in den Griff zu bekommen. Wie leicht werden Personen erreicht, die getestet werden müssen? Ist die Bereitschaft da, sich testen zu lassen? 

uni:view: Theoretisch könnte auch ein Lieferroboter Waren zustellen. Ist dies in Österreich realistisch, und wenn ja, wie würde das aussehen?
Dörner: Ja, durchaus, Roboter mähen Rasen, warum sollten sie keine Waren zustellen? Ein mögliches Szenario ist, dass man ein bemanntes Fahrzeug hat, das sogenannte Mutterschiff. Mit diesem Fahrzeug wird an einem Standort in einer Wohnhausanlage bzw. einer Straße gefahren und geparkt. Dann verlassen die Lieferroboter das Fahrzeug und stellen die Güter auf der "letzten Meile" bis zur Eingangstüre zu. Nach der Auslieferung kehren die Roboter ins Mutterschiff zurück, werden mit den neuen kommissionierten Lieferungen bestückt und das Mutterschiff fährt zum nächsten Stopp, von dem die Lieferroboter wieder die Haustürzustellung übernehmen. 

uni:view: In welchem der genannten Forschungsbereiche wird man am schnellsten praxistaugliche Lösungen haben?
Dörner: Momentan ist im Bereich der Testlogistik der Handlungsbedarf am größten, daher versuchen wir hier schneller zu Ergebnissen zu kommen, damit man zumindest besser den Ressourcenbedarf in den nächsten Monaten abschätzen kann. Im Bereich der Hauszustellung, insbesondere beim Einsatz von Lieferrobotern, wird es noch deutlich länger dauern, bis es zu praxistauglichen Lösungen kommt. Da ist vor allem die Datenlage deutlich unsicherer, hier gibt es keine detaillierten verfügbaren Daten über das Bestellverhalten der Bevölkerung.

uni:view: Vielen Dank für das Gespräch! (bw)

Karl F. Dörner ist Experte für Produktion und Logistik am Institut für Business Decisions and Analytics der Universität Wien. Mit seiner Forschung möchte er es möglich machen, alternative Auslieferungskonzepte in der städtischen Belieferung zu entwickeln. (© Barbara Mair)


Das interdisziplinäre FWF-Akutprojekt unter der Leitung von Karl F. Dörner ist durch die Kontakte in der Forschungsplattform Data Science entstanden. An der Uni Wien sind Immanuel Bomze (Institut für Statistik und Operations Research), Radu Ioan Bot (Fakultät für Mathematik) und Sylvia Kritzinger (Fakultät für Sozialwissenschaft) beteiligt. Weitere Expert*innen sind Margaretha Gansterer (Universität Klagenfurt), Daniele Vigo (University of Bologna, Universität Wien) sowie Niki Popper (TU Wien).