Die Stummfilmmusik als Stimme der Gefühle

Trauer, Leidenschaft, Verzweiflung: Aufgabe der Kinomusik der Stummfilmära war es, das ganze Spektrum menschlicher Gefühle abzubilden. Am Donnerstag, 13. Juni 2019, präsentiert Francesco Finocchiaro im Rahmen eines Lecture-Recitals den umfangreichen Stummfilm-Musikbestand der FB Musikwissenschaft.

uni:view: Was ist das Besondere an der Kinomusik der Stummfilm-Epoche?
Francesco Finocchiaro: Anfang des 20. Jahrhunderts bestanden die Musikbegleitungen bei kinematographischen Vorführungen aus Kompilationen, also einer Collage aus bereits existierenden Musikstücken. Ab den 1910er Jahren begannen die meisten Musikverlage, Kinomusik-Repertoires für die Kompilationen zu veröffentlichen und zu verbreiten. Diese "Stimmungsmusiken" waren nicht zu dem Zweck konzipiert, einen bestimmten Film von Anfang bis Ende zu begleiten, sondern um "kanonische" Situationen zu illustrieren, wie Flucht, Verliebtheit, oder Gefahr, oder um eine Filmszene mit einer allgemeinen emotionalen Aura aufzuladen, z.B. Freude, Spannung oder Melancholie. Die Musik musste das ganze Spektrum menschlicher Gefühle, von Leidenschaft bis hin zu tiefster Verzweiflung, zum Ausdruck bringen.

"Erotische und dramatische Szenen – leidenschaftliche Gefühlsausbrüche": In den 1920er Jahren veröffentlichten Musikverlage Kinomusik-Repertoires für Musikbegleitungen bei kinematographischen Vorführungen. (im Bild: Kinomusik-Repertoire der Filmharmonie, Robert Rühle, Berlin, 1927)

uni:view: Das Institut für Musikwissenschaft verwahrt den Nachlass des deutschen Komponisten und Kinokapellmeisters Edgar Haase. Wie kann man sich diesen Nachlass vorstellen?
Finocchiaro: Die Hauptaufgabe eines Salonorchester-Dirigenten bestand darin, eine eigene Musikbibliothek zu sammeln und zu organisieren. Es handelte sich um riesige Sammlungen von Zehntausenden Einzelstücken. Die Stücke, organisiert in vollständigen Serien von Instrumentalstimmen, wurden entsprechend dem wöchentlichen Angebot eines Kinos ausgewählt, arrangiert, probiert und aufgeführt. Der Nachlass von Edgar Haase stellt ein perfektes Fallbeispiel für solche Kinomusik-Sammlungen dar. Er enthält über 500 Orchestersets aus deutschen, englischen und amerikanischen Kinomusik-Repertoires der Stummfilm-Epoche sowie theoretische Schriften, Verlagskataloge und diverse Werbematerialien – also den Kern seines Schaffens als Filmkomponist und Orchesterdirigent.

Edgar Haase (1901–1967) war ein deutscher Komponist und Kinokapellmeister. Geboren 1901 in Kamenz in Sachsen, besuchte er die Musikhochschule und wurde zunächst Korrepetitor an der Staatsoper Dresden, dann Kapellmeister in Breslau, Liegniz, Hagen/Westfahlen und an der Berliner Kammeroper. Er wurde ferner zum Musikdramaturg und Orchesterdirigenten für die Ufa. Nach dem Zweiten Weltkrieg wechselte er nach Ichenhausen, wo er den evangelischen Kirchenchor gründete und als Organist wirkte. Er komponierte und bearbeitete Musik für Kino, Rundfunk und Fernsehen. Sein Nachlass wurde der Fachbereichsbibliothek Musikwissenschaft der Universität Wien im Jahr 2018 von Wolfgang Stanicek im Auftrag des Musikverlags Bosworth überlassen.

uni:view: In Ihrem aktuellen FWF-Projekt "Filmmusik als Problem im deutschsprachigen Journalismus (1907–1930)" arbeiten Sie auch mit dem Haase-Nachlass …
Finocchiaro: Ein solch umfangreiches Kompendium erlaubt uns einen historischen Einblick in die alltägliche Praxis der Stummfilm-Musik und hilft uns bei der Rekonstruktion der zeitgenössischen Technik und Ästhetik der Filmkomposition. Die kritischen Textquellen, mit welchen sich unser Projektteam beschäftigt, erlauben uns, solche Kinomusik-Sammlungen "im Spiegel der Kritik" zu betrachten.

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… über das Forschungsprojekt von Francesco Finocchiaro im Artikel "Eine laute Revolution":
"Greta spricht!" – In den 1930er Jahren revolutionierte der Tonfilm das Kino. Doch was bedeutete dieser Umbruch für die Filmmusik? Musikwissenschafter Francesco Finocchiaro sucht im journalistischen Diskurs der Stummfilm-Ära nach Antworten und macht seine Funde digital zugänglich.

uni:view: Am Donnerstag, 13. Juni 2019, präsentieren Sie aktuelle Ergebnisse Ihres Projekts im Rahmen eines Lecture-Recitals. Was darf man sich erwarten?
Finocchiaro: Wir werden auf die vielen Aspekte eingehen, die unsere journalistischen Schriften mit Musik konkret verbinden. Unsere Textquellen stehen nämlich in direktem Zusammenhang mit der zeitgenössischen filmmusikalischen Praxis: Aus jener entstehen sie und darauf beziehen sie sich – sozusagen in einem Reigen aus Musizieren und Theoretisieren. Beim Lecture-Recital werden wir – anhand zeitgenössischer journalistischer Quellen – Fragen beantworten wie: Welcher Musikstil entspricht am besten der filmischen Sprache? Formal betrachtet, wie soll eine tatsächliche Filmmusik aussehen? Welche formalen Typologien sind geeignet? Welche Probleme wirft die Verwendung von bereits existierender Musik im Film auf? Der Vortrag wird von einem Kammerensemble – Daniele De Vecchi (Violine), Anna Tonini Bossi (Cello), Tiziana Columbro (Klavier) – live begleitet, zu Gehör kommen Kinomusikstücke aus der Kinothek, Filmharmonie und Preis-Kino-Bibiliothek.

uni:view: Vielen Dank für das Interview! (br)

Veranstaltungstipp: Die Filmmusik von gestern
Donnerstag, 13 Juni 2019, 19 Uhr
Institut für Musikwissenschaft, Hörsaal 1, Hof 9
Spitalgasse 2, 1090 Wien
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