Eine laute Revolution

"Greta spricht!" – In den 1930er Jahren revolutionierte der Tonfilm das Kino. Doch was bedeutete dieser Umbruch für die Filmmusik? Musikwissenschafter Francesco Finocchiaro sucht im journalistischen Diskurs der Stummfilm-Ära nach Antworten und macht seine Funde digital zugänglich.

Der Tonfilm ist der Selbstmord des Kinos – da war sich Charlie Chaplin sicher. Doch nicht nur die Stummfilmikone mit Stock und Melone war besorgt, als die Tonspur das Filmband eroberte, auch in Zeitungen und Revuen wurde die kinematografische Revolution kontrovers diskutiert. Musikwissenschafter Francesco Finocchiaro von der Universität Wien nimmt sich in seinem aktuellen FWF-Projekt diesen Diskurs vor und rekonstruiert entlang zeitgenössischer Artikel der Stummfilm-Ära das "Problem der Filmmusik".

Was ist das Statut und die Funktion von Filmmusik? Welche Probleme wirft ihre Verwendung im Film auf? Was verheißen Musik und Ton für AkteurInnen des Films? Die ungewisse Rolle der Musik im Film, das "Filmmusikproblem" also, erörterten Anfang des 20. Jahrhunderts (Film-)KomponistInnen wie Paul Hindemith, Kurt Weill und Hans Erdmann, aber auch FilmtheoretikerInnen wie Béla Balázs, PhilosophInnen wie Ernst Bloch oder FilmjournalistInnen wie Lotte Eisner. "Das Problem der Filmmusik fand jeden zweiten Tag eine Lösung – also nie", schmunzelt Finocchiaro.

Oktober 1927, "Der Jazzsänger" flimmert über die Leinwand. "Toot, Toot, Tootsie!" tönt es aus den Lautsprechern: Das Filmdrama aus dem Hause Warner Bros. gilt als der erste Tonfilm der Geschichte. (© Warner Bros. Public Domain Mark 1.0)

"Ausgestorbene" Genres

Im Jahr 1927 ebnete das Drama "Der Jazzsänger" den Weg für den Tonfilm. Was sich damals durchgesetzt hat, ist jedoch nur eine Form des kinematografischen Mediums: "Von den unzähligen filmischen Experimenten mit Bild und Ton hat lediglich der Sprechfilm, wie wir ihn heute kennen, überlebt. In der Stummfilmzeit gab es aber ein ganzes Spektrum von Gattungen, die mittlerweile in Vergessenheit geraten sind", bedauert Finocchiaro.

In seinem aktuellen Projekt begibt sich der italienische Musikwissenschafter auf mediale Spurensuche im journalistischen Diskurs. "Filmopern, Pantomimen, Visionen – eine Kette von statischen Bildern mit kohärenter Musik hinterlegt – sogar die Teilnahme des Publikums an der musikalischen Begleitung durch gemeinsames Singen im Kinosaal": die Liste der "ausgestorbenen" Filmgenres ist lang.

"Greta spricht!"

Mit dem Tonfilm sind aber nicht nur Filmgattungen verdrängt worden, auch ganze KünstlerInnenkarrieren gingen zu Ende. Kinoorchester wurden überflüssig, ebenso bedeutete die neue Technik das Aus für viele DarstellerInnen: Stimme, Aussprache und die "Ästhetik des Mundes" gewannen im Tonfilm plötzlich an Bedeutung.

Waren die Filme der goldenen Stummfilmzeit universell verständlich und konnten mit übersetzten Zwischentiteln weltweit gezeigt werden, mussten die SchauspielerInnen für den Tonfilm entweder in einer Fremdsprache sprechen oder ihre Stimmen wurde synchronisiert. Greta Garbo war eine der wenigen SchauspielerInnen, der die Umstellung auf den Tonfilm trotz ihres schwedischen Akzents gelang. "Greta spricht!" – Mit diesem Slogan wurde 1930 ihr erster Tonfilm "Anna Christie" beworben, der ihr sogar eine Oscarnominierung als beste Hauptdarstellerin einbrachte. 

Bereits existierende Musik bringt Assoziationen mit sich, die mit den Inhalten des Films in Konflikt stehen – so die Kritik des 1949 verstorbenen ungarischen Filmtheoretikers Béla Balázs. In den meisten Fällen wurde aber keine Originalpartitur speziell für einen Stummfilm verfasst, sondern bereits bestehende Musik funktional eingesetzt, die das bewegte Bild annäherungsweise begleitete. (© pxhere CCO 1.0)

Fülle an Material

Die journalistische Ausverhandlung der musikalischen Komponente im Film steht bei Finocchiaro im Mittelpunkt. Er und seine Projektmitarbeiterin Henriette Engelke haben bisher über 3.000 Texte aus den Jahren 1907 bis 1930 – Endpunkt der Untersuchung ist die endgültige Etablierung des Tonfilms – gesichtet, an die 500 relevante Beiträge in eine Datenbank überschrieben und nach Metadaten kategorisiert. "Der journalistische Diskurs spiegelt die Zirkulation von Ideen und Fragen wider, die zentral für (kunst-)historische und philosophische Debatten sind", berichtet Finocchiaro.

Vom Mikrofilm zu Open Access

Allein in einer der einflussreichsten deutschen Filmzeitschriften, dem "Filmkurier" (1919-1945), hat das ForscherInnen-Duo an die 2.000 Artikel gefunden, die sich um das vielfältige Problem der Filmmusik drehen. "Die hohe Anzahl zeigt, wie vielschichtig und wichtig die Auseinandersetzung damals war", so der Projektleiter. Nichtsdestotrotz wurden die journalistischen Texte aus der Stummfilm-Ära im wissenschaftlichen Diskurs bislang kaum berücksichtigt. Die Quellen sind schwer zugänglich und können ausschließlich in wenigen Bibliotheken und Archiven auf Mikrofilm gesichtet werden – damit ist nun Schluss.

Wissenschaft im Herzen der Stadt. Das Institut für Musikwissenschaft ist eines von 16 Instituten der Universität Wien, die am Campus angesiedelt sind. Der 96.000m2 große Campus auf dem Areal des ehemaligen Allgemeinen Krankenhauses wurde 1998 offiziell eröffnet. Anlässlich des 20-Jahr-Jubiläums präsentiert die Universität Wien am Campus aktuelle Wissenschaft im Rahmen unterschiedlicher Formate. (© Universität Wien/derknopfdruecker.com)

Der Uni Wien-Musikwissenschafter möchte den digitalen Korpus der Öffentlichkeit zugänglich machen und stellt so die Weichen für interdisziplinäre Anschlussforschung. In einem weiteren Schritt plant Finocchiaro eine Monografie zur Ästhetik der Filmmusik der Stummfilmzeit. "Die digitale Datenbank bildet den Dokumentationsteil meiner Abhandlung. Statt eines Anhangs mit Texten entsteht ein Open Access-Nachschlagewerk im Netz", freut sich Finocchiaro. Wir dürfen gespannt sein: Das Verzeichnis gesammelter Artikel geht 2018 online und wird im Phaidra Archiv der Universität Wien gespeichert. (hm)

Das Projekt "Filmmusik als Problem im deutschsprachigen Journalismus (1907-1930)" unter der Leitung von Dr. Francesco Finocchiaro und der Mitarbeit von Henriette Engelke, MA vom Institut für Musikwissenschaft der Universität Wien läuft von November 2016 bis Oktober 2019 und wird vom FWF gefördert.