Buchtipp des Monats von Kerstin Jobst

Porträt von Kerstin Jobst

Griechische Kolonisten, eurasische Reitervölker, Krimtatar*innen – die Geschichte der Krim reicht Jahrhunderte zurück. Um die Bedeutung der Halbinsel zu verstehen, ist ein Blick zurück unausweichlich. Diesen bietet die Osteuropa-Historikerin Kerstin Jobst in ihrer aktuellen Publikation.

uni:view: In Ihrem 2020 erschienenen Buch "Geschichte der Krim. Iphigenie und Putin auf Tauris" gehen Sie Jahrhunderte zurück, um die heutige Bedeutung der Halbinsel zu erklären. Können Sie die wechselvolle Geschichte kurz skizzieren und erklären, was Iphigenie mit Putin gemein hat?
Kerstin Jobst: Mit der russischen Annexion der Krim im März 2014 ist die Halbinsel in den Fokus der deutschsprachigen Öffentlichkeit gerückt, wobei seitdem oft danach gefragt wird, ob die Krim nun russisch oder ukrainisch ist. Das Buch zeigt auf, dass die 1783 durch das Russländische Imperium annektierte Krim für die überwiegende Zahl der Russ*innen ein hoch emotionalisierter, unveräußerlicher Teil Russlands ist. Gleichwohl ist die Geschichte der Krim aber sehr viel älter - und über die längste Zeit spielten Russ*innen keine Rolle. Die Halbinsel stellte für verschiedene Völker einen Siedlungs- und Transitraum dar; dazu zählten griechische Kolonisten, eurasische Reitervölker, Krimtatar*innen und andere. In diesem Zusammenhang steht auch, dass die Krim eine Kontaktzone zwischen verschiedenen Religionen – Christentum, Judentum und Islam – war. Eine weitere Konstante der Geschichte der Krim bildete deren Rolle als peripherer Raum verschiedener Großmächte – des Römischen Reichs, Byzanz', der Goldenen Horde, des Osmanischen und des Russländischen Reiches.

Das Buch "Geschichte der Krim. Iphigenie und Putin auf Tauris" bietet einen Überblick über 2.000 Jahre dieser wechselvollen Geschichte der Halbinsel, die für die breite Öffentlichkeit zumeist noch eine terra incognita ist. Allerdings sind Iphigenie und Putin - zwei Figuren, die das Schicksal und die Wahrnehmung der Krim nachhaltig prägten - dem deutschsprachigen Publikum sehr wohl vertraut. Das Buch beginnt und endet mit diesen beiden Figuren, womit aufgezeigt wird, wie stark die Krim und deren Geschichte von Mythen und Legenden beeinflusst wurde und wird.

uni:view: Die sogenannte Krim-Krise 2014 endete mit der Annexion der zur Ukraine gehörenden Halbinsel durch Russland. Warum ist die Krim derart bedeutend für Russland?
Jobst: Die Krim besitzt im kollektiven emotionalen Haushalt Russlands eine enorme Bedeutung, die sie durch verschiedene historische und gegenwärtige mentale Aneignungsprozesse erlangt hat. Die Mehrheit der russländischen Staatsbürger*innen besitzt daher, im Gegensatz zu anderen Gegenden der ehemaligen Sowjetunion, eine ganz besondere Bindung zur Halbinsel. Diese beruht auf einem Geflecht sowohl von überindividuell erfahrenen historischen Erzählungen sowie auf ganz persönlichen Erlebnissen, die sie beispielsweise während den populären Urlauben auf der Krim gemacht haben. So stehen etwa die angebliche Taufe des Großfürsten Wladimir auf der Krim, die heroische Verteidigung Sewastopols oder die Gedichte Alexander Puschkins exemplarisch für die Bedeutung der Krim in der russischen Kultur. Daraus folgt, dass die Halbinsel als integraler Teil Russlands beschworen wird und die Annexion 2014 von offizieller russischer Seite als "Wiedervereinigung" mit Russland dargestellt wird. 

uni:view: Seit der Annexion sind knapp sechs Jahre vergangen. Was hat sich seitdem, besonders für die Bevölkerung, verändert?
Jobst: Sechs Jahre seit der völkerrechtlich nicht rechtmäßigen Annexion der Krim durch Russland scheint eine "russische Krim" ein Faktum geworden zu sein. Die Verbindungen zwischen der Krim und Russland werden immer enger, wie es etwa der im Mai 2018 fertiggestellte Bau der Krim-Brücke, welche eine direkte Landverbindung zwischen dem russländischen Festland und der Halbinsel ermöglichte, darlegt. Gleichzeitig verläuft ein Großteil der Infrastruktur nach wie vor über das ukrainische Festland, was durchaus praktische Probleme mit sich bringt. So kämpft etwa die Halbinsel, deren Wasserversorgung zu einem Großteil über den durch die Ukraine verlaufenden Nord-Krim-Kanal gewährleistet wird, zunehmend mit Wasserknappheit aufgrund der Einstellung der Wasserlieferungen durch Kiew. Letztlich leidet die Zivilbevölkerung aber auch an dem zunehmenden wirtschaftlichen Einbruch durch die Sanktionen und den zurückgegangenen Tourismus, der zuvor einen der wichtigsten Wirtschaftszweige darstellte.

Daneben führt die "Gleichschaltung" an die relativ problematische politische Situation Russlands zu Repressionen gegen die Zivilbevölkerung, von denen insbesondere die krimtatarische Bevölkerung betroffen ist. Allerdings kann gegenwärtig nicht abschließend beurteilt werden, wie zufrieden die Bewohner*innen der Krim mit der von russischer Seite propagierten "Wiedervereinigung der Krim mit Russland" sind. 

Das Gewinnspiel ist bereits verlost. Doch die gute Nachricht: In der Universitätsbibliothek stehen die Bücher interessierten Leser*innen zur Verfügung:

1 x "Geschichte der Krim. Iphigenie und Putin auf Tauris" von Kerstin Jobst (Open Access Link)
1 x "Medea und ihre Kinder. Eine Familienchronik" von Ljudmila Ulickaja

uni:view: Welches Buch empfehlen Sie unseren Leser*innen?
Jobst: In Bezug auf die Krim kann ich den 1996 im russischen Original erschienenen Roman "Medea und ihre Kinder. Eine Familienchronik" von Ljudmila Ulickaja empfehlen. 

uni:view: Einige Gedanken, die Ihnen spontan zu diesem Buch einfallen?
Jobst: Dieser Familienroman resümiert anhand des Lebens einer sowjetischen multinationalen Familie, die zwischen den Zentren der UdSSR und der Krim verstreut lebt, die wichtigsten Ereignisse und Entwicklungen auf der Krim im 20. Jahrhundert, einschließlich der revolutionären zwanziger Jahre wie auch die stalinistischen Deportationen der Krimtatar*innen, Krimgriech*innen sowie Bulgar*innen.

uni:view: Sie haben den letzten Satz gelesen, schlagen das Buch zu. Was bleibt?
Jobst: Diese fiktive Familiensaga zeigt auf, dass die Krim ein Ort der Vielfalt und Pluralitäten ist, zu dem viele Einwohner*innen Russlands einen sehr persönlichen Bezug besitzen. Gleichzeitig waren und sind auch die "einfachen Leute" auf der Halbinsel von den "großen" politischen Ereignissen durchaus betroffen. (td)


Kerstin Jobst ist seit 2012 Professorin für Gesellschaften und Kulturen der Erinnerung im östlichen Europa am Institut für Osteuropäische Geschichte der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören u.a. die Geschichte Ostmittel- und Osteuropas, der Schwarzmeerregion, der Kaukasusregion und der Habsburgermonarchie sowie Vergleichende Imperiums- und Kolonialismusforschung.