Buchtipp des Monats von Johanna Gehmacher, Elisa Heinrich und Corinna Oesch

Das bewegte Leben der Feministin, Reisenden und Schriftstellerin Käthe Schirmacher steht im Mittelpunkt der neuesten Publikation eines Autorinnenkollektivs. Im Interview erzählen sie mehr über die Ausnahmepersönlichkeit Schirmacher.

uni:view: In Ihrer kürzlich erschienenen Publikation "Käthe Schirmacher: Agitation und autobiografische Praxis zwischen radikaler Frauenbewegung und völkischer Politik" beschäftigen Sie sich mit der Ausnahmepersönlichkeit Käthe Schirmacher. Was macht sie so herausragend?
Johanna Gehmacher, Elisa Heinrich und Corinna Oesch: In einer Zeit, als es Frauen noch nicht möglich war, im deutschsprachigen Raum ein reguläres Studium aufzunehmen, hat Käthe Schirmacher für sich eine Uni-Karriere angepeilt, die ihr allerdings als Frau versagt blieb. Ihr zweites Ziel, Berühmtheit zu erlangen, erreichte sie als Expertin für Frauenfragen, die pausenlos publizierte und als Frauenrechtlerin zu vielen Streitfragen ihrer Zeit Stellung bezog. Einzigartig im Vergleich zu vielen anderen weiblichen Lebensentwürfen war es, ein "Leben in Erwartung eines Biografen" (oder einer Biografin!) zu führen, d.h. ihr Leben bis ins Detail zu dokumentieren und ihren umfangreichen Nachlass mittels einer Schenkung für die Nachwelt zu bewahren.

Veranstaltungstipp zum Thema
NACHGEFRAGT: 100 Jahre Frauenwahlrecht. Hätte uns mehr gelingen können? 
Gespräch mit Rechtsphilosophin Elisabeth Holzleithner, Journalistin und Buchautorin Eva Weissenberger sowie Publikum – online und live! 
Dienstag, 2. Oktober 2018, 18-19.30 Uhr
Campus-Pavillon, Campus der Universität Wien
Hof 1, Spitalgasse 2, 1090 Wien
Nähere Informationen

uni:view: Als "radikale Frauenrechtlerin" hielt Schirmacher vor dem Ersten Weltkrieg auch in Wien Vorträge und zog ein großes Publikum an. Wie begeisterte sie ihre Zuhörerinnen?
Gehmacher, Heinrich und Oesch: Käthe Schirmachers Publikum in Wien ging tatsächlich in die Tausende! Neben ihrer in den zeitgenössischen Medien immer wieder besprochenen lebhaften Vortragsweise waren es vor allem drei Dinge, die sie zur begehrten Rednerin machten: Sie bot ein breites Repertoire an Vortragsthemen an und scheute weder kontroversielle Themen wie etwa die Prostitution noch Konflikte, die sie immer wieder durch treffende Formulierungen zuzuspitzen verstand. Last but not least bediente sie sich neuester Medientechnologie – so hat sie zu einer Reihe von Lichtbildvorträgen den Text geschrieben. Einer dieser Vorträge – "Die Frau im öffentlichen Leben" – hat sich samt Bildern im Wiener Volkshochschularchiv erhalten und kann auf den Seiten des Schirmacher-Projekts nachgelesen und angesehen werden.

uni:view: Konnte sie tatsächlich politisch und gesellschaftlich für Bewegung sorgen?
Gehmacher, Heinrich und Oesch: Schirmacher erhielt viel Resonanz auf ihr Engagement in der Frauenbewegung, aber auch auf ihr Eintreten für eine völkische Politik, wie eine Vielzahl an Briefen in ihrem Nachlass nahelegt. Auf ihren alljährlichen Vortragsreisen stiftete sie zahlreiche lokale Vereine, während sie selbst vor allem an der Gründung und Propagierung sogenannter "internationaler" feministischer Organisationen mitgewirkt hat. Mit ihren kontroversen Positionierungen hat sie ihr Publikum häufig provoziert, gespalten und so Diskurse vorangetrieben.

uni:view: Inwieweit ist ihre Biografie und ihr Schaffen heute noch aktuell bzw. spannend?
Gehmacher, Heinrich und Oesch: Käthe Schirmacher führte ein bewegtes Leben als Schriftstellerin und Reisende – die Auseinandersetzung mit ihr ist daher nicht nur für HistorikerInnen lohnenswert und anregend. Darüber hinaus stellt ihr Nachlass eine der wohl umfangreichsten erhaltenen Hinterlassenschaften einer europäischen Feministin der Jahrhundertwende dar. Einige ihrer Positionen und Praktiken, so etwa ihre Forderung nach Lohn für Hausarbeit oder ihre intimen Beziehungen mit Frauen, wurden von Feministinnen der 1980er Jahre aufgegriffen – daher regt die Auseinandersetzung mit ihrem Werk auch zur kritischen Reflexion von Historisierungsstrategien und Traditionsbildungen der Neuen Frauenbewegung an. Nicht zuletzt ist die Beschäftigung mit Käthe Schirmacher aber auch deshalb so interessant, weil die radikale Feministin der Jahrhundertwende sich im Laufe ihres Lebens zur völkischen Aktivistin und Antisemitin wandelte – an ihrer Biografie lassen sich daher zentrale Aspekte der Hinwendung des europäischen Liberalismus zum Nationalismus exemplarisch zur Diskussion stellen.

Das Gewinnspiel ist bereits verlost. Doch die gute Nachricht: In der Universitätsbibliothek bzw. Open Access stehen die Bücher interessierten LeserInnen zur Verfügung: 

1 x "Käthe Schirmacher: Agitation und autobiografische Praxis zwischen radikaler Frauenbewegung und völkischer Politik" (Open Access, PDF) von Johanna Gehmacher, Elisa Heinrich und Corinna Oesch, Böhlau Verlag
1 x "Die Geschichte der Sidonie C." von Ines Rieder und Diana Voigt, Zaglossus Verlag

uni:view: Welches Buch empfehlen Sie unseren LeserInnen?
Gehmacher, Heinrich und Oesch: Wir empfehlen "Die Geschichte der Sidonie C." von Ines Rieder und Diana Voigt. Das Buch kam bereits 2000 unter dem Titel "Heimliches Begehren" heraus, war dann allerdings lange Zeit vergriffen. 2012 wurde es – überarbeitet und mit einem neuen Nachwort der mittlerweile leider verstorbenen Ines Rieder versehen – im Zaglossus Verlag neu aufgelegt.

uni:view: Einige Gedanken, die Ihnen spontan zu diesem Buch einfallen?
Gehmacher, Heinrich und Oesch: Unsere Buchempfehlung stellt eine im Jahr 1900 geborene, aus einer wohlhabenden, jüdischen Familie des Wiener Bürgertums stammende Frau ins Zentrum, die – da sie sich in eine Frau verliebt – zu Sigmund Freud in Behandlung geschickt wird. Freud verarbeitete die Sitzungen mit der damals 18-jährigen Margarethe "Gretl" Csonka in seiner berühmt gewordenen Studie "Über die Psychogenese eines Falles von weiblicher Homosexualität" (1920). Das Buch ging aus Interviews hervor, die die beiden Autorinnen über mehrere Jahre hinweg mit der Protagonistin, die 99 Jahre alt wurde, führen konnten. In der Originalfassung des Buches wurde aus Gretl Csonka das Pseudonym Sidonie Csillag – besonders spannend ist, dass Ines Rieder diese Entscheidung im Nachwort der Neuausgabe reflektiert.
Auch wenn der Untertitel des Buches das Verhältnis der Protagonistin zu Sigmund Freud ins Zentrum setzt – die gut lesbare biografische Studie folgt Csonka über viele weitere Lebensstationen, wie den "Anschluss" Österreichs 1938 oder die Jahre im russischen Exil.

uni:view: Sie haben den letzten Satz gelesen, schlagen das Buch zu. Was bleibt?
Gehmacher, Heinrich und Oesch: Das Buch regt in vielerlei Hinsicht zum Nachdenken über wirkmächtige Kategorien, aber auch Handlungsräume und Widerständigkeit an. Dabei werden auch eigene Kategorisierungen herausgefordert. Nebenbei werden zentrale Zäsuren der österreichischen Geschichte im 20. Jahrhundert aus Sicht einer spannenden Protagonistin erzählt. (td)

Johanna Gehmacher und Elisa Heinrich sind beide am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien tätig. Corinna Oesch ist ebenso Zeithistorikerin und war am Institut Projektmitarbeiterin.

Das Buch "Käthe Schirmacher" steht auch Open Access zur Verfügung!