Buchtipp des Monats von Christoph Reinprecht

Soziologe Christoph Reinprecht mit offenen buch lesend vor einem Bücherregal

In seiner jüngsten Publikation beschäftigt sich der Soziologe Christoph Reinprecht mit dem Verhältnis von Soziologie und Nationalsozialismus in Österreich. Im Interview berichtet er über die Hintergründe und hat auch einen Buchtipp für unsere Leser*innen.

uni:view: Was ist das Anliegen Ihrer jüngsten Publikation "Die Soziologie und der Nationalsozialismus in Österreich"?
Christoph Reinprecht: In diesem Band, den ich gemeinsam mit Andreas Kranebitter herausgegeben habe, unternehmen wir den Versuch, das Verhältnis von Soziologie und Nationalsozialismus in Österreich in umfassender Weise und aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten. Es geht dabei naturgemäß auch um historische Verstrickungen oder, wie wir es zugespitzt formulieren, um "Kontaminationen", d.h. die mit der Fachgeschichte nachhaltig verflochtene "Verunreinigung" durch Austrofaschismus und NS-Ideologie.

Zwar war ein Großteil der vor 1938 in Österreich tätigen Soziolog*innen verfolgt, vertrieben oder von den Nazis ermordet worden. Das bedeutete aber nicht, dass es keine soziologische Forschung mehr gab: Es wurden Karrieren weitergeschrieben, Dissertationen verfasst, aber auch Forschungskonzepte und Instrumente, die ursprünglich von vertriebenen Forscher*innen entwickelt worden waren, für die Zwecke des Regimes missbraucht. Dieser zuletzt genannte Aspekt der Beziehung von Soziologie und Nationalsozialismus ist für uns besonders wichtig und bislang kaum untersucht.

uni:view: Wie hat die Soziologie in Österreich im Vergleich zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen ihr Verhältnis zum Nationalsozialismus aufgearbeitet?
Reinprecht: Wer sich mit der Thematik befasst, kommt nicht um eine Positionierung umhin: Was meinen wir, wenn wir von der Soziologie in Österreich zur Zeit des Nationalsozialismus sprechen? Zwar reichen soziologische Traditionslinien ins 18. Jahrhundert zurück; zu einem eigenen Lehrstuhl kam das Fach allerdings erst 1950, ein Studium war erst ab 1966 möglich. Die späte Institutionalisierung begünstigte Grenzziehungen zur nationalsozialistischen Erfahrung, für deren Erforschung erklärte sich das Fach unzuständig. Es ist ein Anliegen des Buchs, verschüttete oder vergessene soziologische Arbeiten zum Nationalsozialismus, die in Österreich entstanden oder von aus Österreich stammenden Soziolog*innen (mit)verfasst wurden, zu dokumentieren. Schließlich ging es uns um die Frage der Übertragung von Erfahrungen, um die Art des Erzählens und Verschweigens in Soziologie und Gesellschaft.

Die Aufarbeitung der Beziehung von Soziologie und Nationalsozialismus war jedenfalls eine Voraussetzung, dass der lange vorherrschende provinzielle Charakter des Fachs aufgebrochen werden konnte. In unserem Sammelband bringen wir die verstreut publizierten Beiträge schließlich in einen Diskussionszusammenhang, gehen aber eben auch über das Exil hinaus und auf die "daheimgebliebenen" Soziolog*innen und die langfristigen Folgen ihres Wirkens ein. 

uni:view: Welche Auswirkungen hatte und hat das Erbe der NS-Soziologie in Österreich?
Reinprecht: Das Erbe der NS-Soziologie – und der Nichtauseinandersetzung mit der Beziehung von Soziologie und NS-Herrschaft – besteht für uns vor allem in einer jahrzehntelangen Dominanz autoritärer Soziologie. Als autoritäre Soziologie bezeichnen wir eine Soziologie ohne Gesellschaft, wie sie uns in der sozialtechnologisch orientierten Forschung begegnet, oder in einer Soziologie ohne Distanz zur vorherrschenden Ordnung der Welt, einer Soziologie, die gewissermaßen um Ordnung kreist und nach Ordnung sucht. Aber das Kernprogramm des Fachs ist die Entzauberung der Welt, wie Max Weber sagte. Die These der "kontaminierten Wissenschaften" ist für uns insbesondere dort von Interesse, wo es um die Analyse aktueller Tendenzen des Autoritären geht. Autoritäre Tendenzen gewinnen heute in vielen Bereich von Gesellschaft und Politik an Bedeutung. Damit einher geht die Frage, was die Soziologie zur Klärung dieser Phänomene beitragen kann. Zur Diskussion steht gewissermaßen das Verhältnis von autoritärer Wissenschaft und kritischer Analyse des Autoritarismus. 

Das Gewinnspiel ist bereits verlost. Doch die gute Nachricht: In der Universitätsbibliothek stehen die Bücher interessierten LeserInnen zur Verfügung:

1 x "Die Soziologie und der Nationalsozialismus in Österreich" von Andreas Kranebitter und Christoph Reinprecht (Hg.)
1 x "Girl, Woman, Other" von Bernardine Evaristo

uni:view: Welches Buch empfehlen Sie unseren Leser*innen? 
Reinprecht: "Girl, Woman, Other" von Bernardine Evaristo. 

uni:view: Einige Gedanken, die Ihnen spontan zu diesem Buch einfallen?
Reinprecht: Zwölf Charaktere und jedes Mal die Frage, was es bedeutet, anders zu sein. Zwölf Geschichten von Kämpfen, Sehnsüchten, Schmerzen, Beglückungen. Zwölf Mal das Wagnis eines Perspektivenwechsels, aber auch die Chance auf Wiederbegegnung. Eine poetische Sprache und doch in hohem Maße sozialwissenschaftlich informiert. Wie wichtig und aufschlussreich es ist, solche Bücher zu lesen, wenn wir unsere heutige Gesellschaft verstehen wollen!

uni:view: Sie haben den letzten Satz gelesen, schlagen das Buch zu. Was bleibt?
Reinprecht: 

This is not about feeling something or about speaking words
This is about being
Together

Es bleibt: Bei aller Verstörung und Radikalität etwas Tröstliches, ein Prinzip Hoffnung: nämlich das Wissen, dass aus den Widersprüchen unseres Lebens und der Gesellschaft Solidarität, Kraft, auch Schönheit entsteht. (td)

Christoph Reinprecht lehrt und forscht am Institut für Soziologie der Universität Wien. Er ist Vizedekan der Fakultät für Sozialwissenschaften, Leiter des Universitätslehrgangs "Europäische Studien" sowie Leiter des StudienServiceCenter Sozialwissenschaften.