Artenschutz: "Wir müssen unverzüglich handeln"
| 14. Januar 2020Bei der Podiumsdiskussion zur "Semesterfrage 2019/20: Wie schützen wir die Artenvielfalt?" am gestrigen Montag, 13. Jänner 2020, wurde verstärkt über Landwirtschaft und politische Maßnahmen diskutiert. In einem waren sich die Teilnehmer*innen jedoch einig: Für einen echten Wandel braucht es gesellschaftliches Umdenken.
"Das Thema Artensterben ist erst seit kurzem so präsent", erinnert Kathrin Böhning-Gaese, Direktorin des Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrums in Frankfurt in ihrem Impulsreferat: "Neuen Druck hat der Bericht des Biodiversitätsrats vom Mai 2019 gemacht." Etwa eine von schätzungsweise acht Millionen Arten sind demnach vom Aussterben bedroht.
Der große Festsaal ist gut gefüllt an diesem Abend – feierlich eröffnet Rektor Engl die Diskussion zur Semesterfrage: Wie schützen wir die Artenvielfalt? "Unsere Forscher*innen liefern vielfältige Blickwinkel und Lösungsvorschläge zu dieser Frage", leitet er ein. Und: "Bei einem so großen Thema ist es besonders nützlich, dass die Uni Wien so breit aufgestellt ist." Wer bei der Diskussion nicht dabei war, kann die gesamte Veranstaltung hier nachschauen.
Im Bild zu sehen (v.l.n.r.): Kathrin Böhning-Gaese, Direktorin des Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum in Frankfurt; Franz Essl, Biodiversitätsforscher an der Uni Wien; Heinz W. Engl, Rektor der Uni Wien; Luc Bas, European Regional Director der International Union for Conservation of Nature in Brüssel; Kathi Schneider, Doktorandin an der Uni Wien und Mitorganisatorin der Fridays for Future Bewegung; Martin Kotynek, Chefredakteur der Tageszeitung "Der Standard"; Alice Vadrot, Politikwissenschafterin an der Uni Wien.
Die Podiumsdiskussion bildet traditionsgemäß den Höhepunkt der Semesterfrage – bereits seit September steht der Schutz der Artenvielfalt im Mittelpunkt der Berichterstattung der Uni Wien auf allen Kanälen; in Kooperation mit "Der Standard" wurden zahlreiche Beiträge von Wissenschafter*innen der Uni Wien publiziert. Moderiert wird die Diskussionsrunde passenderweise von Martin Kotynek, Chefredakteur der Tageszeitung, der zunächst die Teilnehmer*innen vorstellt.
Wichtigster Faktor bei der Bedrohung der Artenvielfalt ist laut Böhning-Gaese die Landnutzungsänderung, zum Beispiel die intensive Landwirtschaftsnutzung in Mitteleuropa. "Wir verlieren Wiesen und Weiden, wir haben mehr Felder. Die Nutztierhaltung ändert sich, wir düngen stark." Das alles führe zu einer ökonomischeren Nutzung der Landschaft. Klimawandel sei als Faktor derzeit nicht so gravierend, das werde aber zunehmen.
Sie schließt ihren Vortrag mit der eindringlichen Forderung nach unverzüglichem Handeln: "Wir müssen eine große Transformation der Gesellschaft auf unterschiedlichen Ebenen anschieben." Im Bezug auf Landwirtschaft heiße das: Artenfreundlicher durch natürliche Schädlingsbekämpfung, mehr Weiden und Wiesen, mehr Ökolandwirtschaft, natürliche Dünger. Damit das funktionieren könne, sei die Agrarpolitik der wichtigste Faktor: "Weg von flächendeckender Förderung, hin zur Förderung für Gemeinwohl und Artenvielfalt." Auch wir seien als bewusste Konsument*innen gefragt. Im Publikum sieht man nachdenkliche Gesichter.
Zur Einstimmung auf die Gruppendiskussion wird im Anschluss ein Video gezeigt, in dem Forscher*innen der Uni Wien individuelle Antworten auf die Semesterfrage geben.
Im Anschluss eröffnet Kotynek das Podium mit der provokanten Frage, ob es denn nicht auch Arten gebe, die getrost aussterben könnten: "Beim Insektensterben kann es manchen Menschen gar nicht schnell genug gehen. Oder Wespen – wem fehlen die denn?" Bas warnt sogleich, dass jede Art einen Zweck hat, dass alles verknüpft ist und die Arten in Abhängigkeiten zueinander stehen.
"Wir wissen oft gar nicht, was wir für Funktionen verlieren, wenn wir eine Art verlieren, weil wir nicht alle kennen", pflichtet ihm Essl bei, "das schützt uns aber nicht vor den Folgen des Verlustes. Wenn Ökosysteme einmal kollabieren, dann ist es schwierig, sie wieder zu reaktivieren. Aber wir sind von ihnen abhängig." Alles, was wir zum Überleben, zum Essen, Trinken und Atmen brauchen, komme letztlich aus der Natur. Wie viel Biodiversität nötig ist, sei zwar schwer zu sagen, "Die Erosion führt aber dazu, dass Ökosysteme labiler werden und sich schlechter anpassen können."
Böhning-Gaese spricht einen anderen wichtigen Punkt an: "Wir als Städter denken oft nicht daran, wie wichtig Natur in unserem täglichen Leben ist." Es gebe aber Modelle, die zeigen, dass die Natur, der Zugriff auf Grünflächen etc. für das menschliche Wohlbefinden ab einem bestimmten Punkt sogar wichtiger als das Einkommen ist.
Muss man denn indigenes und lokales Wissen als Kulturgut nicht mit einbeziehen in den Schutz der Artenvielfalt? Vadrot findet definitiv ja. "Gerade im globalen Süden ist das Leben mit der Natur essentiell", so die Politikwissenschafterin der Uni Wien, "das gibt es in Österreich natürlich auch." Essl stellt fest, dass sich unsere Gesellschaft in den letzten 50 Jahren materiell enorm entwickelt hat. "Natürlich wollen wir nicht die von Armut geprägte Landnutzung unserer Großeltern zurückbringen", meint er: "Doch die wäre aus ökologischer Sicht optimal." Insgesamt müsse man die Akteure der Landwirtschaft unbedingt als Partner*innen sehen. Ohne sie werde keine Transformation gelingen.
Die Diskussion konzentriert sich nun vermehrt auf politische Aspekte. "Es kommt auf den Konsum an und das ist unbequem. Man muss nicht nur anders konsumieren, sondern weniger", so Bas. "Politisch ist das schwer umzusetzen, weil sich niemand traut sowas zu sagen. Nicht mal die Grünen." Er verweist aber auch auf positive Entwicklungen, wie den Green Deal, der gerade verhandelt wird und die neue schwarz-grüne Regierung in Österreich. Diese sei ein positives Zeichen für ganz Europa.
Schneider ist da eher skeptisch. Die Politik beschränke sich zu sehr auf einzelne Aspekte, Zusammenhänge würden weder gesehen noch kommuniziert. "Wenn das Thema Gewässerschutz aus dem Umweltschutz genommen wird, dann wurde etwas nicht verstanden", verweist sie auf Inhalte des neuen Regierungsprogramms. Vadrot hebt in Bezug auf dieses hervor, dass es ein eigenes Subkapitel zu Biodiversität und Artenschutz gebe. "Da geht es auch um die Restaurierung von Artenschutz, es gibt ein Bekenntnis zur Grundlagenforschung, Böden und Biodiversität werden explizit erwähnt." Das sei schon ein positives Signal an die Forschung.
"Was Konsum angeht, da brauchen wir eine ganz breite Wertedebatte", kommt Böhning-Gaese nochmals auf Bas' Kritik zurück: "Was brauchen wir wirklich?" Bas gibt nun aber zu bedenken, dass es noch Zeit brauche, bis die Gesellschaft bereit sei nichtmonetäre Werte zu schätzen, "diese Zeit haben wir aber nicht." Ohne Verknüpfung mit monetären Werten werde es also auch nicht gehen. Schneider schiebt das mangelnde Bewusstsein auch auf die Nische der wissenschaftlichen Debatte: "Es muss kommuniziert werden, wie komplex die Artenvielfalt ist, raus aus dem Elfenbeinturm." Zur Frage der politischen Dimension merkt Essl auch an, dass das Erstarken von rechten, populistischen Parteien ein Problem sei, denn diese hätten solche Ansätze gar nicht im Sinn. Bas plädiert daher für ein Agieren auf europäischer Ebene.
"Und wer soll das alles zahlen?" will Kotynek wissen und spricht damit auf den geforderten Systemwandel an. Geld gebe es ja genug, meint Bas, zur Lösung brauche man Kontexte. Essl pflichtet ihm bei: "Wir reden ja nicht von einem Luxus- sondern von einem Überlebensproblem. Die Ausgaben von Bund und Ländern für Naturschutz sind sechs Mio Euro jährlich – das ist lächerlich wenig." Böhning-Gaese merkt an, dass die EU die Landwirtschaft mit Milliarden von Euro jährlich subventioniere, "aber fast alles geht an die großen Betriebe." Es werde kaum darauf geachtet, wie gemeinwohlorientiert diese seien. Das Geld sei also da, werde aber falsch verteilt, so der Tenor.
"Letztlich ist das Umstellen des Wirtschaftssystems ein Aushandlungsprozess, der in der Gesellschaft stattfinden muss und der viel mit Werten zu tun hat", fasst es Vadrot zusammen. Es gibt zahlreiche Statements und Fragen aus dem Publikum, u.a. meldet sich Andrea Möller, die seit Juni 2018 das Österreichische Kompetenzzentrum für Didaktik der Biologie an der Universität Wien leitet, zu Wort. Sie verweist auf die große Lücke zwischen Wissen und Handlungsbereitschaft der Bevölkerung und regt an, die Menschen wieder in Berührung mit der Natur zu bringen, um eine Handlungskette in Gang zu setzen. Hier weiß Schneider Positives zu berichten. "Was ich in der Fridays for Future Bewegung schon sehe, ist ein größeres Konsumbewusstsein und junge Menschen, die sagen: Das brauche ich nicht." Bas warnt, dass auch die Umweltorganisationen aus ihrer Komfortzone müssen, sonst treffe man sich nicht: "Es ist wichtig, dass man auch die wirtschaftlichen Schwierigkeiten versteht."
Das Publikum ist präsent, auch Rektor Engl folgt den Beiträgen gespannt. Kotynek schließt mit einem Statement zur Verantwortung der Medien. "Im Sommer 2018 haben wir beim Standard gemerkt, dass Klimawandel Migration als wichtigstes Thema der Leser*innen abgelöst hat." Der Standard berichte seitdem auch vermehrt über dieses Thema und habe ein neues Ressort gegründet: Das Zukunftsressort.
Im Anschluss an die Podiumsdiskussion tauschen sich die Teilnehmer*innen angeregt bei einem Glas Wein über die Beiträge aus. (Text: Sarah Nägele / Fotos: © derknopfdruecker.at)
Im Sommersemester 2020 veranstaltet die Uni Wien eine Ringvorlesung zum Thema: "SILENT SPRING - Das 6. Massensterben. Ursachen und Konsequenzen." Im Rahmen der Vorlesung beschäftigen sich Wissenschafter*innen verschiedener Disziplinen mit der Erosion der Biodiversität und ihren Folgen, jeweils Montag 11:30 bis 13:00 Uhr voraussichtlich im Hörsaal 2 des UZA1, Althanstraße 14, 1090 Wien. Erster Termin ist der 2. März 2020.