Geheimnis Gesundheit – Laufen im Prater: Die Podiumsdiskussion zur Semesterfrage
| 14. Juni 2017Wissenschaft und Pharmaindustrie begegnen sich auf dem Podium der Abschlussveranstaltung zur aktuellen Semesterfrage. Die Diskussion rund um Möglichkeiten und (notwendige) Grenzen der personalisierten Medizin lockt am 13. Juni 2017 zahlreiche Interessierte in den Großen Festsaal der Universität Wien.
Die Podiumsdiskussion zur dritten und aktuellen Semesterfrage "Gesundheit aus dem Labor – was ist möglich?" konkurriert mit dem schönen Wetter, nichtsdestotrotz besuchen zahlreiche Interessierte, darunter viele junge Menschen, die mittlerweile zur Tradition gewordene Abschlussveranstaltung. WissenschafterInnen aus unterschiedlichen Disziplinen teilen an diesem Abend ihre Perspektive auf u.a. pharmazeutische Forschung, personalisierte Medizin und ethische Konsequenzen. Hier gibt es die gesamte Podiumsdiskussion zum Nachschauen.
Durch den Abend führt Rainer Schüller, stv. Chefredakteur von "Der Standard", dem Kooperationspartner der Universität Wien im Projekt "Semesterfrage". Im Laufe des Sommersemesters 2017 sind neben Interviews, Podcasts und Videos im uni:view Magazin und im Blog der Universität Wien Kommentare und Q&A-Artikel von WissenschafterInnen der Universität Wien auf "derStandard.at" erschienen.
"Wir werden uns die nächsten zwei Stunden um Ihre Gesundheit kümmern" – mit diesem Versprechen übergibt Moderator Schüller an Heinz W. Engl, Rektor der Universität Wien und Gastgeber der heutigen Veranstaltung.
Nach einer Begrüßung durch Rektor Heinz W. Engl wird eine Video-Rückschau auf die Semesterfrage ausgestrahlt. Der Öffentlichkeit zeigen, dass die Universität Wien Fragen in großer Breite stellen und beantworten kann – mit diesem Anspruch gehe das Projekt "Semesterfrage" in die mittlerweile dritte Runde, erklärt Heinz W. Engl.
Den Anstoß zur heutigen Diskussion gibt der Impulsvortrag "Geheimnis Gesundheit: Zwischen Präzisionsmedizin und Prater" von Andreas Barner, promovierter Mathematiker und Mediziner sowie ehemaliger CEO des Pharmaunternehmens Boehringer Ingelheim.
"Die Lebenserwartung in Deutschland und Österreich nimmt um zwei bis drei Monate pro Jahr zu – der Trend hält an. Mädchen, die heute geboren werden, haben gute Chancen über 100 Jahre alt zu werden", so Barner in seiner Keynote. Gründe für die steigende Lebenserwartung seien der medizinische Fortschritt, die immer präziseren Therapien, der Zugang zu gesunden Lebensmitteln sowie Arbeitsplätze, die nicht gesundheitsgefährdend sind.
Entscheidende Basis für die pharmazeutische Forschung und Entwicklung sei eine breite Grundlagenforschung, wie sie auch an der Universität Wien betrieben werde, räumt Barner ein. Nur die Offenheit, Hypothesen zu formulieren und zu prüfen, und Raum für Unerwartetes zu lassen, erlaube neue Erkenntnisse jenseits ausgetretener Pfade.
Grundlagenforschung, die therapeutisch relevant wurde, zeigt Barner am Beispiel von HIV auf. Mitte der 1980er Jahre starben infizierte Personen mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent innerhalb eines Jahres. Danke der Forschung ist AIDS mittlerweile behandelbar und zur chronischen Krankheit geworden.
Und was hat der Prater im Titel der Keynote zu bedeuten? Dieses Rätsel lüftet Barner im zweiten Teil seines Vortrages: WienerInnen haben das große Glück, über ein Erholungsgebiet mitten in der Stadt zu verfügen. Radfahren, Joggen, Walken – schon 30 Minuten Bewegung und das sieben Mal die Woche fördere und erhalte die Gesundheit, so Barner. Das Präventionspotenzial der sogenannten "soft practices" – wie etwa Bewegung, Lebensstil und Ernährung – sei nicht zu unterschätzen, das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs oder Demenz könne erwiesenermaßen gesenkt werden. "Im Prater laufen", lautet daher seine Empfehlung. Zur Erleichterung vieler Gesundheitsbewussten und im Hinblick auf den wartenden Umtrunk räumt er jedoch ein, dass der Konsum von "3/8 Wein pro Tag unproblematisch" sei.
Auf das Podium gesellen sich zum ehemaligen Boehringer Ingelheim-Unternehmer Judith Rollinger, Pharmakognostin und stv. Leiterin des Departments für Pharmakognosie der Universität Wien, Michael Wagner, Mikrobiologe und Leiter des Departments für Mikrobiologie und Ökosystemforschung der Universität Wien sowie Barbara Prainsack, Bioethik-Expertin am King's College in London und ab Oktober 2017 Professorin an der Universität Wien (im Bild v.li.n.re.: Andreas Barner, Judith Rollinger, Rainer Schüller, Michael Wagner, Barbara Prainsack).
Mikrobiologe Michael Wagner untersucht die Evolution, Physiologie und Ökologie nitrifizierender Mikroorganismen mithilfe innovativer Einzelzelltechniken. Sein Ziel ist es, Mikrobiome besser zu verstehen und so gezielt manipulieren zu können. Besonderes Interesse erregt in diesem Kontext die bereits praktizierte Methode der Fäkalientransplantation: Nach einer Antibioitkatherapie kann sich das Darmbakterium Clostridium difficile vermehren, Gifte produzieren und so zu schweren, teilweise tödlichen Durchfallerkrankungen führen. Helfen kann hier eine Stuhltransplantation: Erkrankte Menschen bekommen den Stuhl gesunder SpenderInnen in Kapselform, durch Einläufe oder Spiegelungen verabreicht.
Die Zukunft könnte dahin gehen, dass Menschen in gesunden Zeiten ihren eigenen Stuhl einfrieren lassen, der im Falle einer Erkrankung aufgetaut wird. "Einige FachkollegInnen sind bereits dazu übergegangen", verrät der sympathische Mikrobiologe.
Ebenfalls auf dem Podium sitzt Pharmakognostin Judith Rollinger. In ihrer Forschung versucht sie, heilende Kräfte aus Naturstoffen nutzbar zu machen und altes "Kräuterwissen" mit modernen pharmazeutischen Ansätzen zu verknüpfen. Ihr Fachgebiet wird manchmal mit Homöopathie verwechselt, tatsächlich geht es aber darum, die niedermolekularen Inhaltsstoffe von Pflanzen, aber auch von anderen Organismen wie Pilzen, Algen oder Flechten, für die Suche nach neuen Arzneistoffleitstrukturen nutzbar zu machen.
Bioethik-Expertin und promovierte Politologin Barbara Prainsack beschäftigt sich in ihrer Forschung mit den sozialen, regulatorischen und ethischen Aspekten der Biomedizin und Biowissenschaften – derzeit noch am King's College, ab dem Wintersemester 2017/18 dann an der Universität Wien. Im Herbst erscheint auch ihr Buch "Personalized Medicine: Empowered Patients in the 21st Century?", in dem sie die Rolle der PatientInnen in der personalisierten Medizin beleuchtet.
"Wir haben uns von der Idee des genetischen Determinismus verabschiedet. Es ist nicht nur die genetische Ausstattung, sondern auch Bewegung und ein gesunder Lebensstil sind für das körperliche Wohlbefinden notwendig", schließt Prainsack an den Impulsvortrag von Barner an: "Allerdings wird dadurch die Tür geöffnet, dass Menschen für ihre Krankheiten verantwortlich gemacht werden."
Die sozialen Determinanten dürfen aber nicht außer Acht gelassen werden, mahnt die Politologin. Beispielsweise haben in einigen Gebieten der USA Menschen keinen Zugang zu Grünanlagen, das öffentliche Verkehrsnetz ist schlecht ausgebaut, nicht einmal Gehsteige sind in der Stadtplanung vorgesehen. Adipositas und Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind die Folge des sozial determinierten Bewegungsmangels. In diesen Gegenden sei auch ein Sinken der Lebenserwartung zu beobachten, merkt Prainsack an.
"36 Milliarden Euro werden für Gesundheit ausgegeben, aber nur vier Prozent davon landen in Präventionsmaßnahmen", greift Rollinger das Thema ihrer Vorrednerin auf: "Eine Umverteilung ist notwendig, wenn man bedenkt, dass gewisse Krankheiten durch entsprechende Vorsorge und Aufklärung verhindert bzw. eingedämmt werden könnten."
Die CRISPR/Cas-Methode und Technologien rund um das Genome Editing bieten neue Möglichkeiten im Gesundheitsbereich, werfen aber auch ethische Fragen auf. Wir müssen diskutieren und Grenzen ziehen, bevor in die Keimbahn eingegriffen und so die biologische Evolution des Menschen beeinflusst wird, darüber herrscht Einigkeit auf dem Podium. Doch: "Nur diskutieren hilft nicht, gefragt ist vor allem die Politik", gibt Prainsack zu bedenken.
Hitzig diskutiert wird auch der Einsatz von Antibiotika: Bakterien entwickeln mit der Zeit Resistenzen und Antibiotika verlieren ihre Wirkung. Es gibt kein Antibiotikum, gegen das Bakterien nicht auf Dauer resistent werden. Problematisch ist auch die falsche bzw. leichtfertige Verschreibung von Antibiotika, zum Beispiel bei banalen Erkältungen oder viralen Erkrankungen, wirft Mikrobiologe Wagner ein. Ändern muss sich auch der exzessive Einsatz von Antibiotika in der Massentierhaltung. Zudem müssen neue Antibiotika erforscht und entsprechende finanzielle Mittel aus der Pharmaindustrie zur Verfügung gestellt werden, so Wagner.
Spannende Rückfragen kommen auch aus dem Publikum, zum Beispiel wird das Thema von einem Zuhörer auf die Phagen-Therapie gelenkt. Die Therapieform wird primär in Ländern der ehemaligen Sowjetunion angewandt, in denen es lange keinen Zugang zu Antibiotika gab. Bakteriophagen werden gezielt genutzt, um bakterielle Infektionen zu behandeln. Noch nicht in Österreich zugelassen, könnte die Phagen-Therapie in Zukunft eine Alternative zu der Antibiotikabehandlung sein. Doch auch bei Phagen würden sich Resistenzen nicht vermeiden lassen, gibt Michael Wagner zu bedenken.
Der Wissensdurst bleibt, doch die Zeit geht dahin: Die Phagen-Therapie und andere spannende Aspekte rund um das Thema Gesundheit aus dem Labor können aber im Anschluss an die Podiumsdiskussion bei – wie wir nun wissen, unbedenklichen – 3/8 Wein weiterdiskutiert werden.
Verraten wurde auch schon die nächste Semesterfrage: Im Wintersemester 2017/18 werden WissenschafterInnen der Universität Wien auf "Was ist uns Demokratie wert?" antworten. Für die abschließende Veranstaltung wird auch im kommenden Semester prominenter Besuch erwartet: Joachim Gauck, ehemaliger Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, und Heinz Fischer, ehemaliger Bundespräsident der Republik Österreich, haben bereits zugesagt, mit WissenschafterInnen der Universität Wien am Podium zu diskutieren.
(Fotos: Universität Wien/ derknopfdruecker.com; Text: Hanna Möller)
Hier können Sie die gesamte Podiumsdiskussion online nachschauen.