Wer lehrt, hat auch einmal studiert (Teil 3)

Nicht nur für unsere Studierenden, auch für die Lehrenden startet das neue Semester. Heute erzählt Philosoph Gerald Posselt in Teil 3 unserer Serie aus dem akademischen Nähkästchen.

uni:view: Erinnern Sie sich zurück: Was haben Sie damals an Ihrem ersten Tag auf der Universität (Studium Philosophie, Germanistik, Physik und Chemie) erlebt?
Gerald Posselt: An meinen allerersten Studientag erinnere ich mich nicht mehr, aber noch sehr gut an die ganz praktischen Dinge, die am Anfang zu meistern waren. Ich werde wohl nie vergessen, wie ich zusammen mit anderen Studierenden die Nacht vor dem Studentenwerk der Universität Freiburg verbracht habe, in der Hoffnung, am nächsten Tag noch ein Zimmer zu ergattern. Damals war die Wohnungsnot in Freiburg sehr groß, sodass sogar Turnsäle in Notschlafstellen umfunktioniert wurden. Dennoch denke ich immer noch sehr gerne an diese prägende Zeit zurück.


Während seiner Dissertationszeit war Gerald Posselt im Rahmen eines DAAD-Doktoranden-Stipendiums Visiting Scholar am Department of Rhetoric der University of California Berkeley. Das Foto zeigt ihn 1998 am Strand unterhalb der Golden Gate Bridge in San Francisco.



uni:view: Welches Motto hat Sie während Ihres Studiums begleitet?
Gerald Posselt: Nicht unbedingt ein Motto, aber die Einstellung, immer wieder Neues auszuprobieren und anzupacken. Ich habe mit dem Studium der Chemie begonnen und bin dann über die Physik und Germanistik schließlich zur Philosophie gekommen. Heute wäre das wahrscheinlich aufgrund der starken Verschulung des Studiums gar nicht mehr so einfach möglich, was ich durchaus bedenkenswert finde. Die Universität lebt ja davon, dass sie ein Ort kreativen Denkens und kritischen Fragens ist und nicht einfach nur eine Ausbildungsstelle.

uni:view: Was vermissen Sie am meisten an Ihrer Studienzeit?
Gerald Posselt: Die Zeit und Freiheit, viel zu lesen, unterschiedliche wissenschaftliche Ansätze und Herangehensweise auszuprobieren und sich immer wieder über den Tellerrand der eigenen Disziplin hinauszuwagen.

uni:view: Welche Tipps geben Sie Ihren Studierenden mit auf den Weg?
Gerald Posselt: Dass sie Freundschaften suchen und sich mit StudienkollegInnen zusammentun sollen. Viele StudienanfängerInnen, aber auch noch höhere Semester, wirken oft sehr verloren an der Universität. Ganz entgegen ihrem Ruf ist die Philosophie kein Fach, das man im stillen Kämmerlein studieren kann. Vielmehr erfordert sie die lebendige Diskussion und den Austausch mit anderen. Ich empfehle meinen Studierenden daher immer, Arbeitsgruppen und Lesekreise zu bilden, in denen man philosophische Texte liest und diskutiert. Diese intensive gemeinsame Auseinandersetzung mit philosophischen Fragen und Texten kann kein Seminar und keine Vorlesung ersetzen. (mw)


Gerald Posselt studierte von 1989 bis 1996 Philosophie, Germanistik, Physik und Chemie an den Universitäten Darmstadt und Freiburg i. Br. Von 1997 bis 1998 war er im Rahmen eines DAAD-Doktoranden-Stipendiums Visiting Scholar am Department of Rhetoric der University of California Berkeley und danach assoziiertes Mitglied am Graduiertenkolleg Repräsentation–Rhetorik–Wissen an der Viadrina-Universität Frankfurt/Oder. 2002 schloss er seine Dissertation mit einer Arbeit zum Verhältnis von Rhetorik und Philosophie ab. Ab 2001 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an mehreren Forschungsprojekten an der Universität Wien beteiligt. Er ist seit 2004 Lehrbeauftragter der Universität Wien, seit 2010 Senior Lecturer am Institut für Philosophie und seit 2014 Leiter des FWF-Projekts "Sprache und Gewalt".