Kerstin Jobst: "Osteuropa ist nicht rückständig!"

"Auch wenn es ausgedacht klingen mag: Als ich begonnen habe zu studieren, träumte ich davon, einmal Geschichtsprofessorin in Wien zu werden", lacht Kerstin Jobst. Im Jahr 2012 ist dieser Wunsch für die Osteuropahistorikerin in Erfüllung gegangen.

Begonnen hat alles in Hamburg. In ihrer Heimatstadt studierte Kerstin Jobst von 1982 bis 1988 Geschichte, Psychologie, Literaturwissenschaften und Finno-Ugristik. Während ihres Studiums und der Recherche zur Dissertation war sie zweimal für längere Zeit in Wien. "Ich habe mich damals in die Stadt verliebt. Hier konnte man das habsburgische Galizien, über das ich damals gearbeitet habe, noch 'live' spüren. Wenn ich abends aus der Österreichischen Nationalbibliothek kam, mich auf die Stufen setzte und auf das mächtige Hinterteil des Pferdes von Prinz Eugen schaute, fühlte ich mich von der Geschichte berührt."

Schwerpunkt: Osteuropa


Im Mittelpunkt stehen bei Jobst, die seit August 2012 Professorin für Gesellschaften und Kulturen der Erinnerung im östlichen Europa ist, Polen, Ukraine, Russland, der Schwarzmeer-Raum einschließlich der Krim und die slawischen Peripherien der Habsburgermonarchie. "Die Denomination der Professur, 'östliches Europa', gibt mir einen großen Freiraum, alle die Regionen zu 'bearbeiten', für die ich mich interessiere", freut sich die Wissenschafterin. 

Die Frage "Wieso gerade Osteuropa?" hat Kerstin Jobst in ihrem Leben schon oft gehört. "Ich glaube, das werden alle OsteuropaforscherInnen gefragt. Osteuropa scheint immer noch einen gewissen Exotenbonus zu besitzen, was mich verwundert", schmunzelt die Forscherin.

Heiligenforschung und Krim


Aktuell beschäftigen die Wissenschafterin vor allem zwei Themen: Der griechisch-katholische Heilige Jozafat Kuncevyč, ein Märtyrer aus dem 17. Jahrhundert, Heiligenkulte im östlichen Europa insgesamt und die Geschichte der Halbinsel Krim. "Bedingt durch die aktuellen Entwicklungen liegt mein Fokus im Augenblick auf dem zweiten Thema. Ich habe das Gefühl, die Krim ist für viele Menschen noch eine Art 'unbekannter Planet'. Aus diesem Grund schreibe ich gerade eine Monographie ihrer Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart."

Für ihre Habilitation über den russischen Krim-Diskurs im Zarenreich war Kerstin Jobst öfters vor Ort. Momentan ist dies schwierig: "Zum einen fehlt mir die Zeit, zum anderen möchte ich die russische Krim-Politik in der Form auch nicht unterstützen. Ich wünsche mir überdies, dass die Ukraine mit Unterstützung der Weltgemeinschaft einen Weg zu einem stabilen Staat findet. Nicht durch Gewalt, sondern durch Verhandlungen."

Das Institut für Osteuropäische Geschichte ist an dem FWF-Doktoratskolleg "Das österreichische Galizien und sein multikulturelles Erbe" beteiligt. "Mein Wunsch wäre es auch nach Förderungsende durch den FWF in drei Jahren, an der Universität Wien weiter eine institutionalisierte Galizienforschung behalten zu können", so die Osteuropahistorikerin: "Auf diesem Gebiet hat sich die Universität einen ausgezeichneten, internationalen Ruf erarbeitet, es wäre schon deshalb bedauerlich, die Arbeit nicht fortführen zu können"

Mit Mythen aufräumen

Die sympathische Wissenschafterin tritt selbst gerne in den Dialog – ob mit KollegInnen oder Studierenden. In ihrer Lehre möchte sie vor allem mit zwei hartnäckigen Mythen aufräumen: "Geschichte ist, entgegen mancher Annahme, kein einfaches Fach. Und auch immer noch ein äußerst wichtiges Fach. Viele zeitgenössische Erscheinungen können wir nur verstehen, wenn wir ein Bewusstsein für die Geschichte haben."

Ihr zweites Anliegen, das sie den Studierenden vermitteln möchte, ist es, mit Klischees über Osteuropa aufzuräumen: "Nur weil das östliche Europa partiell eine andere Entwicklung durchlaufen hat als das westliche, heißt das nicht, dass es rückständiger ist. Natürlich ist vieles anders, einiges läuft im westlichen Europa besser, manches aber auch nicht. In jedem Fall wünsche ich mir, dass das Einteilen in die Kategorien 'entwickelt' und 'weniger entwickelt' aufhört."

In den Dialog treten


Der Campus der Universität Wien, wo sich das Institut für Osteuropäische Geschichte befindet, ist für Kerstin Jobst der ideale Ort für ihre Arbeit. Und das nicht nur, weil die sportbegeisterte Mutter einer 14-jährigen Tochter mit dem Rad zur Arbeit fahren kann: "Ob JoggerInnen und Thai Chi-SportlerInnen am Morgen, der Spielplatz in Hof 1 oder die Jugendlichen am Abend: Der Campus bringt die akademische mit der nicht-akademischen Welt zusammen. Das finde ich wundervoll." (mw)

Univ.-Prof. Dr. Kerstin Susanne Jobst, M.A., seit August 2012 Professorin für Gesellschaften und Kulturen der Erinnerung im östlichen Europa am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien, hält am Montag, 11. April 2016 um 18.30 Uhr im Kleinen Festsaal eine Public Lecture zum Thema "Einnahme unmöglich? Sevastopol´ als Geschichte eines (Miss-)Erfolgs".