Dietlind Hüchtker: "Geschichte aus einer anderen Perspektive betrachten"

Geschichte gegen den Mainstream lesen – das wollte Dietlind Hüchtker schon zu Studienzeiten. Und diesem Motto ist sie durchaus treu geblieben. Aktuell hat sie die Käthe-Leichter-Gastprofessur am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien inne.

"Trotzdem das Fach zu meiner Zeit didaktisch eine Katastrophe war, hat mich Geschichte schon in der Schule fasziniert", sagt die Hisorikerin Dietlind Hüchtker rückblickend: "Es war für mich nur logisch, es zu studieren." Dafür ging sie 1981 nach Berlin und war von der Stadt begeistert: "Es gab damals viel Krawall und politisches Theater."

Die Atmosphäre an der FU Berlin Anfang der 1980er Jahre beschreibt sie hingegen als recht konservativ. Auch die Auswahl an Kursen zu Geschlechtergeschichte war klein – sie besuchte alles, was dazu angeboten wurde. "Für mich war es einfach spannend, Geschichte aus einer anderen Perspektive zu betrachten, Geschichte gegen den Mainstream zu machen."

1996 promovierte Dietlind Hüchtker mit einer geschlechtergeschichtlichen Arbeit  zur Armenpolitik in Berlin Ende des 18. Jahrhunderts. Schon damals hat sie auch die  Protestforschung sowie Alltagsgeschichte miteinbezogen. Bis heute sind die verschiedenen Formen von Interventionen in die Gesellschaftsordnungen ihr Hauptthema.

Nach Polen

Nach ihrer Dissertation wollte Dietlind Hüchtker etwas ganz Neues machen: "Eigentlich durch Zufall hat es mich nach Polen gezogen – eine Bildungsreise zum Thema jüdisches Leben in Polen hat mich derart fasziniert, dass ich danach anfing, polnisch zu lernen", sagt die Historikerin: "Nach nur zwei, drei Jahren konnte ich mich zwar ganz gut unterhalten – historische Quellen zu lesen, war allerdings schon eine große Herausforderung, denn die Vokabeln lernt man nicht mehr so leicht wie mit 18."

In ihrem ersten großen Postdoc-Projekt verband Hüchtker dann auch ihre beiden großen Forschungsinteressen: Polen und Politik. Dabei hat sie die Region Galizien, die als eine Armutsregion innerhalb der Habsburgermonarchie gilt, und die dort entstehenden Arbeiter-, Bauern- und Frauenbewegungen Ende des 19. Jahrhunderts untersucht. "Spannend ist, dass alle politischen Bewegungen – seien ihre Inhalte noch so verschieden – gemeinsame Formen und Sprachen aufweisen, darunter an vorderster Stelle der Zugang zu Bildung. Die Bewegungen übten Partizipation und versuchten, neue Hierarchien miteinander zu verbinden."

Perspektive Geschlechtergeschichte


Für Dietlind Hüchtker ist Geschichte – durch die "Geschlechterbrille" betrachtet – sozusagen eine Sonde, die durchaus für allgemeine Fragen der Gesellschaft sensibilisiert. Sie fragt danach, wie informelle Macht verteilt wird: Wer spricht wann in welchem Kontext? Wie inszeniert sich eine Frau, die nicht "mitmachen" darf? Denn im 19. Jahrhundert war es Frauen etwa verboten, sich politisch zu organisieren oder Parteien zu gründen. Und doch gab es viele herausragende Frauen, die gesellschaftlichen Einfluss hatten bzw. ihn sich erarbeitet haben.

Vom Habsburgerreich zum Staatssozialismus

Aktuell forscht die Käthe-Leichter-Gastprofessorin zu Jugend im Staatssozialismus. Dazu leitet sie zwei Projekte: Zum einen interessiert sie sich für die Bedeutung von Jugend auf dem Land und zum anderen dafür, wie die Jugend im östlichen Europa mit der Utopie der freien Liebe umging. "Hier fehlt es vor allem an Männlichkeitsforschung", so Hüchtker: "In beiden Projekten lautet meine Frage: Wie wird Jugend diskursiv genutzt?" Zu diesem Thema hält sie auch ihre Käthe-Leichter-Vorlesung an der Universität Wien.

Zu Gast in Wien

Zur Universität Wien hatte Dietlind Hüchtker im Verlauf ihrer Karriere schon seit langem Kontakt: "Sowohl mit den KollegInnen aus der Geschlechtergeschichte als auch mit den ForscherInnen des DK 'Galizien' habe ich mich immer viel ausgetauscht. Die Universität Wien hat nach wie vor sehr viele HistorikerInnen, das finde ich stark."

Über die Einladung zur Käthe-Leichter-Gastprofessur freute sie sich vor allem wegen des intensiven fachlichen Austauschs an der Universität Wien. "Auch Zeit in der Stadt Wien zu verbringen, ist für mich sehr schön. Ich war schon öfters hier und die Stadt ist mir vertraut", sagt Dietlind Hüchtker: "Schönbrunn und Stephansdom habe ich daher bereits abgeklappert; so kann ich mich mehr auf aktuelle Dinge konzentrieren, die mich interessieren, wie Ausstellungen oder Theaterbesuche." (td)

PD Dr. Dietlind Hüchtker hält ihre Käthe-Leichter-Vorlesung am Mittwoch, 9. Dezember 2015, um 18 Uhr in der Aula am Campus zum Thema "Jugend, Geschlecht und Populärkultur im Sozialismus. Das Beispiel Polen".