Wie Österreich wählt. Die Megastudie

Neben Griechenland war Österreich bisher die einzige westliche Demokratie, in der noch nie eine umfassende akademische Wahlstudie durchgeführt wurde. SozialwissenschafterInnen der Universität Wien ändern dies in einem ambitionierten Vorhaben.

Um der Bedeutung von Wahlen für die Demokratie in Österreich Rechnung zu tragen, wurde das Forschungsnetzwerk AUTNES ins Leben gerufen: 2013 wird es die erste Nationale Wahlstudie Österreichs durchführen. Die Leiter von AUTNES sind Wolfgang C. Müller, Professor für Democratic Governance, gemeinsam mit Sylvia Kritzinger, Vorständin des Fakultätszentrums für Methoden der Sozialwissenschaften, und Klaus Schönbach, Professor für Allgemeine Kommunikationswissenschaft und Vorstand des Instituts für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft.



Projekt- und Buchpräsentation zur Wahlstudie:
Am 11. September 2013 stellten die ProjektleiterInnen Wolfgang C. Müller, Sylvia Kritzinger und Klaus Schönbach im Senatssaal das FWF-geförderte
Nationale Forschungsnetzwerk AUTNES vor und präsentierten erste Zwischenergebnisse sowie das Buch "The Austrian Voter", das eine Analyse des Wahlverhaltens der ÖsterreicherInnen von 1986 bis 2008 vornimmt.
Projektpräsentation (PDF)



Mehr als eine Umfrage


Der Wahlkampf für die kommenden Nationalratswahlen ist bereits im vollen Gange: SpitzenpolitikerInnen duellieren sich im Fernsehen, versuchen sich als DJs im Radio, lächeln von riesigen Plakaten, zeigen ihre Oberkörper und twittern mit ihren Fans. Gleichzeitig überbieten sich die Boulevardblätter fast täglich mit neuen Umfragen von geringer Aussagekraft zu möglichen Wahlergebnissen. Wie aber wirkt diese bunte Mischung aus Wahlwerbung und Medienberichterstattung auf unser Wahlverhalten? Was motiviert die WählerInnen, und welche politischen Inhalte kommen tatsächlich bei ihnen an? Und wie interagieren unsere PolitikerInnen mit den Medien?

In Österreich gab es Wahlforschung bis dato in aller Regel nur außerhalb der Universitäten. Anders als in anderen westlichen Demokratien fehlt hier eine umfassende nationale akademische Wahlanalyse. "Wahlen bestehen nicht nur darin, dass Wähler und Wählerinnen am Wahltag ihre Stimme abgeben, sondern aus einem demokratischen Prozess und der Auseinandersetzung damit", betont Wolfgang C. Müller, Vorstand des Instituts für Staatswissenschaft der Universität Wien, und ergänzt: "Es genügt deshalb nicht, den BürgerInnen nur am Wahltag auf die Finger zu schauen."


"Neben der Medienberichterstattung im Wahlkampf berücksichtigt unsere integrierte Studie sowohl die 'Nachfrageseite' im politischen Wettbewerb – sprich die Wählerinnen und Wähler -, als auch die 'Angebotsseite' – also die politischen Parteien sowie die KandidatInnen", erklärt Wolfgang C. Müller die drei Teilprojekte von AUTNES: "The Media Side", "The Demand Side" und "The Supply Side". 2013 wird damit erstmals in Österreich eine Nationalratswahl einer umfangreichen und tiefgehenden Untersuchung unterzogen. Zur Projektseite


 
Trends und Veränderungen

Um langfristig nachzuzeichnen, was die österreichischen WählerInnen ausmacht, hat Sylvia Kritzinger gemeinsam mit Eva Zeglovits, Michael Lewis-Beck und Richard Nadeau im Rahmen von AUTNES die Trends und Veränderungen im Wahlverhalten von 1986 bis 2008 bereits ausgewertet. Zentrales Ergebnis: In Hinblick auf die Großparteien – ÖVP und SPÖ – zeigt sich eine relativ große Kontinuität. "Bestimmte Variablen, die bereits in den 60er und 70er Jahren die Wahlentscheidung erklärten, gelten auch heute noch", so Kritzinger. Sprich: Gläubige KatholikInnen wählen nach wie vor hauptsächlich ÖVP und Gewerkschaftsmitglieder die SPÖ. "Während für diese Parteien immer noch etablierte Modelle Gültigkeit haben, werden für die 'neuen' Parteien andere Erklärungsmuster herangezogen, die sich vor allem auf Themen wie Zuwanderung oder Umweltschutz beziehen", erzählt Eva Zeglovits.


Junge Menschen wählen eher Grüne und FPÖ, ältere SPÖ und ÖVP. Der Einfluss langfristiger Faktoren wie Religiosität oder soziale Zugehörigkeit nimmt hingegen stetig ab. "Trotzdem erklären diese Faktoren nach wie vor – gemeinsam mit ökonomischen Themen – das Wahlergebnis von SPÖ und ÖVP eher als jenes der Grünen und FPÖ", so Sylvia Kritzinger (li.), gemeinsam mit Eva Zeglovits (re.) et al. Autorin des Buchs "The Austrian Voter".



Innovative Methoden

Aufbauend auf diesen umfangreichen Daten und auf den Erhebungen 2013 beschreiben Kritzinger und ihr Team das individuelle Wahlverhalten vor, während und nach der Nationalratswahl 2013 und untersuchen dabei unter anderem, welche Medien von welchen WählerInnen rezipiert werden. In Zusammenarbeit mit den durchführenden Meinungsforschungsinstituten hat das Team sehr viel Zeit und Know-how in die Methodenforschung investiert. "Um die Wahlkampfdynamiken zu beobachten, haben wir verschiedene Instrumente für die sehr diversen Fragestellungen und Abläufe im Wahlkampf entwickelt." Bisher wurden über Face to Face-, Telefoninterviews und Online-Umfragen bereits 10.000 ÖsterreicherInnen befragt.

Hier kommt das integrierte Forschungsdesign von AUTNES ins Spiel: "Um das Wahlverhalten zu erfassen, kombinieren wir sowohl die Inhalte der Wahlkampagnen als auch der Medienberichterstattung mit den Befunden aus unseren WählerInnen-Umfragen", fasst Kritzinger zusammen.

Flächendeckende Medienanalyse

Was fließt in die Medienberichterstattung ein? Und was wird dann davon in der Krone gelesen und mit welchem Effekt? "Österreich ist im Vergleich zu anderen (nord)westeuropäischen Demokratien bekannt für seinen Parallelismus zwischen Medien und Politik – aber stimmt das? Wir prüfen u.a., ob Medien hierzulande tatsächlich stärker mit einzelnen Parteien verbunden sind als anderswo, und inwieweit bestimmte Medien selbständig Themen setzen", so der Kommunikationswissenschafter Klaus Schönbach. Die Forschung seines "Media Side"-Teams geht über herkömmliche Analysen der Medienberichterstattung hinaus. "Wir verbinden die computerisierte mit der traditionellen Inhaltsanalyse und können auf diese Weise den kompletten Medienmarkt – sprich alle regionalen und nationalen Medien – Österreichs abbilden, einschließlich der Nachrichtenangebote des Internets." Diese flächendeckende Medienanalyse ist weltweit einzigartig.


"Langfristige Konfliktlinien – sogenannte 'cleavages' – haben immer weniger Einfluss auf die Wahlergebnisse. Der Einfluss der Medien auf das Wahlverhalten wird somit stärker und die umfassende Untersuchung der Medienberichterstattung relevanter", so der Kommunikationswissenschafter Klaus Schönbach. Gemeinsam mit Katharina Kleinen-von Königslöw und dem "Media Side"-Team untersucht er flächendeckend alle österreichischen Medien: von den einzelnen Bezirksblättern über TV und Radio bis hin zu Online-News. Zu den Teilergebnissen von "Media Side"



Komplex und integrativ

Jedes Teilprojekt liefert zentrale Inputs für die anderen: "Was Parteien bzw. deren KandidatInnen vorhaben, welche Ideen sie vertreten und welche Themen sie forcieren, ist für WählerInnen wichtig, um die Parteien wahrzunehmen oder zuzuordnen. Andererseits orientieren sich diese an den Vorlieben der WählerInnen. Sie beobachten dafür die Medienberichterstattung, während sie umgekehrt der hauptsächliche Zulieferer der Massenmedien sind", erklärt AUTNES-Koordinator Müller die Komplexität des Wahlkampfs – und des Forschungsprojekts. Mit seinem Team verfolgt er von Wahlprogrammen über Presseaussendungen, TV-Diskussionen bis hin zu Tweets alle "Spuren", die PolitikerInnen in der Öffentlichkeit hinterlassen. "Außerdem befragen wir alle NationalratskandidatInnen – das sind nahezu 4.000."


Die MitarbeiterInnen von AUTNES: (stehend, v.l.n.r.) Ramona Vonbun, Katharina Kleinen-von Königslöw, Eva Zeglvotis, Anna Katharina Winkler, Konstantin Glinitzer, Markus Wagner, Christian Glantschnigg, David Johann, Marcelo Jenny, Martin Haselmayer, Carina Jacobi; (sitzend, v.l.n.r.) Jakob-Moritz Eberl, Wolfgang C. Müller, Sylvia Kritzinger, Klaus Schönbach, Katrin Schermann. Nicht im Bild: Julian Aichholzer, Martin Dolezal, Laurenz Ennser-Jedenastik, Thomas Meyer und Nikolaus Eder. 



"Unsere Wahlstudie ist durch diese Verknüpfung aller Wahlkampfelemente einzigartig und wurde in diesem Umfang noch in keinem anderen Land durchgeführt. Das groß angelegte Forschungsnetzwerk erlaubt uns erstmals, komplexe Forschungsfragen umfassend zu beantworten", sind sich die drei Projektleiter einig. Die Studie läuft bis 2015. (ps)

Die zweite Förderperiode (2013-2015) der Österreichischen Nationalen Wahlstudie AUTNES (Austrian National Election Study) startete im Jänner 2013. Das vom FWF geförderte nationale Forschungsnetzwerk läuft unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Wolfgang C. Müller (Koordinator), Vorstand des Instituts für Staatswissenschaft, Univ.-Prof. Dr. Sylvia Kritzinger, Vorständin des Fakultätszentrums für Methoden der Sozialwissenschaften, und Univ.-Prof. Dr. Klaus Schönbach, Vorstand des Instituts für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft.

ZUM NACHLESEN:
Präsentation der Österreichischen Nationalen Wahlstudie AUTNES und Buchpräsentation "The Austrian Voter" (PDF)
11. September 2013, 17 Uhr
Senatsaal der Universität Wien
Programm zum Nachlesen (PDF)