Selbstinszenierung mit jedem Biss

Vom Kommunismus zum Konsumwahn – das gesellschaftliche Leben im Vietnam hat sich grundlegend gewandelt. Das macht sich auch im Essverhalten bemerkbar. Dem Zusammenhang von Ernährung, Körper und Identität ist Entwicklungssoziologin Judith Ehlert nun in den Straßen von Ho Chi Minh City auf der Spur.

Die vietnamesische Stadt Ho Chi Minh City (ehemals: Saigon) ist plakatiert mit Werbung – zum einen für "moderne" Produkte der globalen Lebensmittelindustrie und zum anderen für erfolgsverheißende Diätmittelchen, Fitnessstudios, Ernährungs- und Gesundheitsratgeber. KonsumentInnen bewegen sich in einem urbanen Spannungsfeld von Konsumaufforderung, Maßregelung und Verzicht.

Neben mobilen Essensständen und vietnamesischen Restaurants sprießen internationale Fast-Food-Ketten und High-End-Lokale aus dem Boden. Traditionellerweise werden in Vietnam Gerichte geteilt, mit der neuen Restaurantkultur aber wird "allein in Gesellschaft" vom eigenen Teller gegessen. (Foto: Wikimedia Commons/Takeaway, CC BY-SA 3.0)

Gesellschaftlicher Wandel Vietnams

Was ist seit der zunehmenden wirtschaftlichen Integration und im Zuge der Globalisierung in dem kommunistischen Einparteienstaat passiert? Das nimmt Entwicklungssoziologin Judith Ehlert von der Universität Wien in ihrem aktuellen Forschungsprojekt am Institut für Internationale Entwicklung unter die Lupe. Ein banal anmutendes Alltagsphänomen wird dabei zur Linse für komplexe Transformationsprozesse: Essen.

Du bist, was du isst

"Vietnam ist ein spannender Fall: Obwohl es nach wie vor kommunistisch ist, hat sich das Land Mitte der 1980er Jahre wirtschaftlich geöffnet. Es kam die Liberalisierung des Landwirtschaftssektors, zunehmende Privatisierungen und 2007 schließlich der WTO-Beitritt", erklärt Judith Ehlert. Seitdem haben die Menschen in Vietnam Zugang zu Lebensmitteln und Produkten aus aller Welt – und damit gerät die Idee der egalitären Gesellschaft ins Wanken: "Über statusaufwertende Produkte und Essenspraktiken kann man sich nun differenzieren; Konsum schafft neue Identitäten. Über Essen lassen sich soziale Aushandlungen von Geschlecht, Generationenkonflikte, soziale Ungleichheit und Körperpolitiken beobachten", so die Wissenschafterin.

Von der Bio-Nische zum Körperkult

Seit Anfang 2015 untersucht die Entwicklungssoziologin diesen "spannenden Fall" in einem FWF-Projekt. Unterstützt wird sie von der Doktorandin Nora Faltmann, die sich mit Lebensmittelsicherheit, sozialer Ungleichheit und Biokonsum – einer kleinen und kostspieligen Nische in Vietnam – beschäftigt. Ehlert selbst konzentriert sich auf die Verzahnung von Ernährung und Körperkult mit der sozialen Ordnung und Geschlechterrollen. Wann immer die Lehre an der Universität Wien es zulässt, ist die Forscherin in Vietnam unterwegs, führt Interviews und Beobachtungen ebenso wie Diskurs- und Medienanalysen durch: "Gerade die vielfältigen methodischen Zugänge machen das Thema für mich interessant", so Judith Ehlert.

Vietnam war 71 Jahre lang französische Kolonie – die französischen Einflüsse sind nach wie vor erkennbar. Bánh mìs (belegte Baguettes) oder der am Straßenrand verkaufte Cà phê sữa (Eiskaffee mit Kondensmilch) sind Relikte aus dieser Zeit. (Foto: Flickr/kevin, CC BY 2.0)

Schönsein im Wandel der Zeit

Die Lehre Konfuzius' begleitet die Menschen in Vietnam schon seit Jahrhunderten. Es überrascht nur wenig, dass der chinesische Philosoph auch die Vorstellungen von Schönheit geprägt hat: Demnach geht Schönheit bei Männern vom Geiste aus, Frauen hingegen müssen körperliche Kontrolle ausüben und sich zurücknehmen, um Schönheit auszudrücken. Das befindet sich im Umbruch, so die Vietnam-Expertin: "Durch Fitness und Ernährungsmodelle – also das 'Projekt Körper'– haben Frauen nun einen neuen Spielraum, in dem sie sich selbst inszenieren können. Andererseits stehen sie einer Vielzahl an neuen Körpernormen, an Ernährungswissen und Lebensstilanforderungen gegenüber, die sich in der Regulierung von Essverhalten fortschreiben, so Ehlert.

Ein Ideenimport aus aller Welt

Der Zugang zu Internet, Film und Fernsehen hat neue Ideen in das Land gebracht – und damit die Vorstellungen von Schönheit beeinflusst: "Trends, Tendenzen und Schönheitsideale werden aus dem Westen importiert, sind aber auch sehr stark asiatisch geprägt. Die koreanische Kultur zum Beispiel gilt als Ausdruck der Moderne: Stars aus Soap-Operas, TV-Shows und K-Pop werden imitiert", so Ehlert. Schlank und sportlich gilt als schön, hinter den großen Fensterfassaden eines Fast-Food-Restaurants zu essen als modern – das beobachtet die Entwicklungsforscherin immer wieder, wenn sie in den Straßen von Ho Chi Minh City unterwegs ist.

Wie es begann …

"Ich arbeite schon seit 2007 zu Vietnam. Damals habe ich bei Familien im Mekong-Delta gelebt und meine Dissertation über lokales, landwirtschaftliches Wissen geschrieben. Es wurde im Familienbund oft über die Produktion von Essen, speziell von Reis, gesprochen, und mir ist bewusst geworden, dass das Thema viel über Regionalität ausdrückt und mit Identität zu tun hat. Da wollte ich weiterforschen – speziell jedoch zu urbanem Konsum, da dies ein extrem dynamisches Forschungsfeld in Vietnam darstellt", erzählt Judith Ehlert.

Gesagt, getan: Ihr Forschungsprojekt an der Universität Wien läuft noch bis Dezember 2017, auf Neuigkeiten aus Ho Chi Minh City darf man gespannt sein. Derzeit arbeiten Ehlert und Faltmann an einem Buchprojekt zum Thema "Food Anxieties", welches unterschiedliche Risiken, Ängste und Unsicherheiten im Umgang mit Essen in Vietnam thematisiert. (hm)

Seit Anfang 2015 forschen Entwicklungssoziologin Judith Ehlert (re.) und Doktorandin Nora Faltmann in einem FWF-Projekt – mal in Wien, mal in Ho Chi Minh City. (Foto: privat)

Das vom FWF geförderte Projekt "Ein körperpolitischer Ansatz des Essens – Vietnam im Geflecht globaler Transformation" läuft von Jänner 2015 bis Dezember 2017. Es wird am Institut für Internationale Entwicklung unter der Leitung von Dipl.-Soz. Dr. Judith Ehlert und in Zusammenarbeit mit Mag.a Nora Faltmann und Carina Maier durchgeführt.